Bericht der "Thurgauer Zeitung" [1]
20.1.1916, Frauenfeld
Eine kurze, aber vielsagende Meldung kommt aus dem kleinen neutralen Fürstentum Liechtenstein: "Die Lebensmittel werden immer knapper." Die Liechtensteiner erhalten allerdings das Nötigste aus der Schweiz; so ist schon mehrmals Bundesweizen an die Nachbarn überm Rhein abgegeben worden. Von Österreich her, wo der Fürst weilt, ist sozusagen nichts zu bekommen. Nur die Einfachheit in der Lebenshaltung und die Frucht des eigenen Bodens ermöglichen den Liechtensteinern die Überwindung der schweren Zeit. Am Dienstag hat man aus der Schweiz wieder 5'300 Kilo Mehl nach Liechtenstein gebracht. Das Ländchen zählt rund 10'000 Einwohner und ist offenbar sehr übel dran. Es kümmert sich niemand um das kleine neutrale Liechtenstein; von Österreich, das ihm sonst so nahesteht und ihm den Zoll, die Post und die Tabakregie besorgt, wird Liechtenstein jetzt als Ausland betrachtet. Der Fürst scheint sich nicht viel um sein Liechtenstein zu kümmern. Er wohnt in Wien und man sollte meinen, dass es bei seiner hohen Stellung nicht unmöglich sein sollte, die Liechtensteiner wenigstens mit den notwendigsten Lebensmitteln zu versorgen. Der Fürst von Liechtenstein, Herzog von Troppau und Jägerndorf, ist einer der kapitalkräftigsten Feudalherren von ganz Österreich. Er könnte die 10'000 Liechtensteiner aus seiner Privatschatulle erhalten, ohne dass die fürstlichen Finanzen stark zerrüttet würden. Man hat früher in den Zeitungen oft von der Mildtätigkeit des reichen Fürsten gehört; in Liechtenstein selbst aber haben wir uns sagen lassen, die vielgerühmte Mildtätigkeit des Fürsten Johann II. von Liechtenstein sei sehr einseitig geartet und pflege sich fast ausschliesslich in Vergabungen an Kirchen und Klöster zu äussern. Und davon können die Liechtensteiner jetzt nicht essen.
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[1] "Thurgauer Zeitung", Nr. 16, 20.1.1916 (LI LA SgZs 1916).