Reisebericht im Liechtensteiner Volksblatt, gez. Elias Wille, 9. Folge [1]
10.5.1907
Reiseerinnerungen und Erlebnisse einiger Liechtensteiner.
(Erzählt von Elias Willi.)
Wir durften uns alsgemach wieder auf Deck wagen, die See ging zwar noch hoch, förmlich Berg und Tal bildend; bald vorn, bald hinten tauchten die Spitzen des „Sarmatian" ins Wasser, wir mussten uns ans Geländer anklammem, um nicht zu riskieren, über Deck gerollt zu werden. Man darf noch Gott danken, von einem solchen Sturm auf hoher See überrascht zu werden. Wir aber befanden uns auf nichts weniger als freier Bahn, nämlich in der Nähe der Küste von Neufundland. Das erste, was wir jetzt zu Gesicht bekamen, waren zwei Eisberge, starre, vierkantige Massen; ein eisiger Wind blies uns ins Gesicht, eine Folge der kalten Strömung, in die wir geraten waren. Als Ersatz für die erlittenen Unbilden schenkte uns der Himmel gegen Ende der Reise nun doch ein paar schöne Tage. Mittags desselben Tages, also den 13. Juni, erschien Neufundland auf der Bildfläche. Dank der innegehaltenen Nähe, konnten wir uns einen Einblick in das Land gestatten.
Vorherrschend Hügelland, reich an Waldungen, in der Feme schliesst ein fast durchs ganze Land sich ziehender Gebirgszug den Gesichtskreis ab. Die Küste fällt teilweise schroff zur See ab; derselben entlang sind zahlreiche Ortschaften, deren Bewohner dem Fischfang obliegen; eine Menge grösserer und kleinerer Fahrzeuge kreuzten in den Gewässern. Die Natur erwacht hier sehr spät; die Landflächen verrieten noch wenig vom Frühlingszauber, lagen im Gegenteil noch in Rot, als hätten die Strahlen der Junisonne soeben erst die Herrschaft über den Schnee errungen. Für die Nacht traten die Scheinwerfer etlicher Leuchttürme an der Küste in Tätigkeit; nächsten Morgen um 9 Uhr lag Neufundland hinter uns. Neufundland ist bekanntlich britischer Kolonialbesitz, jedoch wie Kanada mit Selbstverwaltung, eigener Regierung und eigenem Parlament. Hauptstadt des Landes, zugleich Sitz der Regierung, ist St. John. Gegen Abend passierte der „Sarmatian" wieder ein Eiland, den 15. mittags endlich kam am rechten Ufer Festland in Sicht. Dem Strand entlang, bis zu einer gewissen Höhe ausgerodet, ist das Land der Kultur dienstbar gemacht, in Wies- und Ackerland umgeschaffen und stark besiedelt. Die Ortschaften machen einen recht freundlichen Eindruck — niedliche, weissgetünchte Häuschen, aus deren Mitte Kirchturmspitzen hervorragen. Abends erreichten wir auch auf der anderen Seite Land. Dieses aber bietet noch ein recht trostloses Bild; Wald, nichts wie Wald, dunkler Urwald, an den noch keine Axt sich herangewagt, kein Zeichen von Kultur erkennbar ist. Mit dem Gewinnen beider Ufer war der „Sarmatian" in die Mündung des „Lorenzo" eingefahren; dessen Strasse lässt sich weit in die See hinaus verfolgen. Je weiter stromaufwärts, je enger wird derselbe und desto stärker die Strömung. Morgens, den 16. Juni war am rechten Ufer der Wald zurückgetreten und dem Gesichtskreis entschwunden; eine offene Landschaft lag vor unseren Augen, durch den kanadischen Schienenstrang dem Verkehr erschlossen, dessen Endpunkt eine am Ufer des Lorenzo gelegene Stadt.
Noch 180 Meilen Entfernung trennten uns von Ouebeck [2]; der Lotse übernahm für diese Strecke die Führung des „Sarmatian". Noch einmal, jedoch nur für kurze Strecken, verdrängt der Wald das offene Feld, um allenfalls beiderseits demselben zu weichen. Bei dem nächsten Erwachen lag der „Sarmatian" ruhig vor Anker, Quebeck vor unsern Augen. Zwölf Tage hatte diese Reise in Anspruch genommen, abgerechnet die Zeit des Stillstandes; der „Sarmatian" hatte durchschnittlich 250 Meilen per 24 Stunden zurückgelegt.
Diesmal ging unsere Landung glatt von statten. Nach der nun einmal unvermeidlichen Doktorvisite waren wir frei. Einer Episode, die sich bei dieser Landung abgespielt und die es verdient, erwähnt zu werden, kann ich mich noch sehr wohl erinnern. Mit uns war auch ein junger Ire herüber gekommen. Nun verlangt das kanadische Gesetz sechs Dollars an Barmitteln bei Ankunft im Ausschiffungshafen; der Sohn des grünen Erin verfügte aber nur noch über deren zwei und war naiv genug, solches der Einwanderungsbehörde zu gestehen, obwohl ein Vorweisen des Geldes nicht verlangt, sondern bloss darnach gefragt wurde. Auf dieses Geständnis hin wurde dem jungen Iren bedeutet, er könne nach dem Gesetz nicht landen und werde deshalb zurückgeschickt. Dem armen Menschen ergings jetzt wie seinerzeit uns, er weinte herzbrechend. Dieser Anblick aber muss die Beamten gerührt haben, denn kurz entschlossen trat einer derselben aus dem Bureau, nahm den Hut des jungen Mannes und veranstaltete zu dessen Gunsten unter den zahlreich anwesenden Passagieren eine Kollekte, als erster sein Scherflein hiezu beitragend. Das gute Beispiel wirkte, im Nu war der Ire im Besitz von ungefähr zehn Dollars, somit frei und überglücklich; seine Dankesbezeugungen wollten kein Ende nehmen. So was hätts in New-York nicht gegeben.
Auf den Informationskarten war unser Stand als Landarbeiter verzeichnet. Alle diejenigen Passagiere, die als solche signalisiert, wurden von den übrigen abgesondert, um per Kolonistenzug nach Montreal befördert zu werden. Indessen hatten wir einige Stunden Zeit, in Ouebeck herumzulaufen. Ouebeck ist Hauptstadt der Provinz gleichen Namens, am rechten Ufer des Lorenzo gelegen, eine Stadt vielleicht von der Grösse Basels. Am linken Ufer liegt das viel kleinere, aber desto schöner gelegenere Levis. Aus irgend einem Anlass prangten diese Städte im Festschmuck, waren reich dekoriert, beflaggt und bekränzt.
Die Gegend von Quebeck bis Montreal ist die interessanteste, durch die wir gekommen. Durch Wälder, in denen weiter nichts frei liegt als der Bahnkörper, dann wieder durch abgebrannte Strecken, in die der Pflug des Farmers zwischen den Baumstümpfen hindurch seine krummen Furchen gezogen, auch durch mehr kultivierte und belebtere Gegenden windet sich die Bahn in steter Abwechslung. Als Stationsgebäude steht oft bloss eine einfache Holzhütte da, den Namen der nächstgelegenen Ortschaft tragend, von der aber meist nichts zu sehen war. In denjenigen Orten aber, die am Bahnkörper gelegen, hatten sich die Bewohner angesammelt, um den Kolonistenzug mit Zurufen und Tücherschwenken zu begrüssen; natürlich wurden diese Grüsse von uns herzlich erwidert.
(Schluss folgt.)