Das Liechtensteiner Volksblatt lamentiert über die verkommene, materialistisch eingestellte Jugend und fordert eine Rückkehr zu alten, "preussischen" Erziehungsmethoden.


Zeitungsbericht im Liechtensteiner Volksblatt, gez. „L“. [1]

1.10.1919

Moderne Jugend.

Im Zusammenhang mit der gänzlichen Weltänderung - mit der Evolution, würden die Philosophen sagen — steht die moderne Jugend leider nicht zurück. Übrigens gehört das Wort „Jugend" beinahe ins Museum der Altertümer, denn im früheren Sinne des Wortes gibt es keine Jugend mehr; das wissen die Pädagogen und die Eltern zu gut.

Nun, da es keine Wirkung ohne Ursache gibt, suchen wir auf den Grund dieser modernen Zustände durch Deduktion zu kommen. Die Charakteristik unseres Jahrhunderts ist die allgemeine Emanzipation auf jedem Gebiet, die sich der Welt in ansteckender Weise bemächtigt hat. Der Voltair'sche Geist, gestützt auf seine Devise: Ni Dieu, ni maitre! hat sich aus den Grenzen Frankreichs über die ganze europäische Gesellschaft ausgebreitet. Die Infiltration dieses Geistes geschah im Anfang in latenter Weise, hauptsächlich durch das Werk der Logen geleitet. Lang aber waren bloss die Städte die Burgen des zynischen Materialismus - oder besser genannt „Sensualismus". Die französische Revolution, die geistige Tochter Voltair's, machte aus ihm die neue Weltreligion und von dieser Zeit ab propagierte sich der Geist, langsam aber sicher bis in die entlegensten Gegenden, über Meere und Gebirge, um während dieses Krieges sein Apotheose zu feiern. Materialismus auf der ganzen Linie! Zehn Millionen Menschen zum Tod verurteilt und ein Heer von Krüppeln, um die Interessen einer plutokratischen Gruppe zu verteidigen! Und mit der Lüge, die triumphiert, siegt auch momentan der Lehrspruch Voltaire's: „Lüge, lüge nur, es wird doch etwas davon zurückbleiben ... "

Spartakismus und Bolschewismus sind ebenso konsequente Erzeugnisse des Geistes der französischen Revolution, als letztere als Derivativ des Voltaire'schen Geistes angesehen wird — eine Aequation die evident ist, Theoremen die mit einem Abstand von 120 Jahren durch „Absurdum" demonstriert werden.

Der Materialismus hat jedes Ideal getötet. Die heutige Generation glaubt nur noch an das Goldstück! Schöne Perspektive für die Zukunft. Wer nicht mitmacht, wird beinahe als „dumm" angeschaut und so entsteht eine Welt von Neid, von egoistischen Rücksichtslosigkeiten, von Skeptizismus, von niedrigster Genusssucht, und alle diese Passionen und Laster bringen ihre tierischen Folgen mit sich. Homo homini lupus ... Sie zerreissen sich, zerfleischen sich, sie verleumden sich, sie hassen sich weil sie sich nicht mehr des Dramas von Golgatha entsinnen, wo die markerschütternd traurigklingende Stimme des Gott-Märtyrers inmitten des Orkans in dem Finstern ertönte: Verzeih ihnen, Vater, denn sie wissen nicht was sie tun - ... Mitleidsworte; die Anwendung auf die heutige Generation haben dürften, mehr noch auf die Generation von morgen. Skeptisch und meistens zynisch, schwer erblich belastet setzt unsere moderne Jugend ihren Stolz darein, sich von jeden erzieherischen Grundsätzen zu befreien. Inmitten einer Gesellschaft lebend, wo Disziplin, Autorität, Festhalten an Grundsätzen, an Vorfahren-Überlieferungen u. Ideal Schiffbruch gelitten haben, muss die Jugend schon durch diese verderblichen Beispiele beeinflusst sein. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Hiezu noch charakteristische Symptome der Zeiten: Methodelosigkeit der Erziehung seitens der Eltern, welche eine unvermeidliche Rückwirkung auf die pädagogische Tätigkeit haben müssen. Es gibt keine Kinder mehr! Das haben wir erreicht mit der blinden, passiven Duldsamkeit des „lasst sie machen". Und leider bleibt das Land ebensowenig geschont als die Grossstadt. Wer grüsst noch liebenswürdig und höflich auf der Landstrasse? fast ausschliesslich ältere Leute, während junge Burschen es für unter ihrer Würde halten, einen Gruss zu bieten.

Typisch war meine Begegnung vor einigen Tagen mit einem Kind, das die Kühe im Freien hütete. Elf Jahre alt, aber eine Pfeife, nicht aus Schokolade, sondern eine „Richtige" im Mund. Sollen wir uns empören dann, wenn wir Zehnjährigen begegnen, die bloss bescheidene Zigaretten rauchen?

Und wenn einer sich erlaubt, sich darüber auszuhalten, erhält er meistens irgendeine grobe oder freche Antwort, wo er noch dazu per „Du" angeredet wird. In dem käsehohen Burschen steckt schon der Geist Voltaire's und wie schwer er zu vertreiben ist, das wissen nur diejenigen, welche sich dafür bemühen.

Das Resultat davon ist, dass dank des Bankrotts unserer Erziehungsmethode die Strafanstalten aller Länder überfüllt sind, und dass die Kriminalität in erschreckender Weise zunimmt.

Mörder mit 15 Jahren gehören nicht mehr zu den Seltenheiten, ja sogar in mehreren Fällen, Vater- und Muttermörder in diesem Alter. Zu leicht hat man den preussischen Schulmeister kritisiert, was nicht hindert, dass er mit der Rute in der Hand ganz andere, positive Resultate erreicht hat, als die Schwärmer von der Rousseau-Theorie, denn dort hat es wenigstens geklappt. In einem Buch von A. Dumas „Ange Piton" wird ein junger Dorfanarchist meisterhaft geschildert. Aus Mitleidsgefühl wird der Waisenknabe in der Zeit wo die französische Revolution ausbricht, erzogen. Aber seine unbändige Natur treibt ihn, die Güte seines Wohltäters mit Schlechtem zu vergelten, sodass er die erste Gelegenheit benützt, um mit den Revolutionären gegen den Abbé vorzugehen. Solche Figuren wären Legionen heutzutage.

Die Frage ist, ob wir wohl noch mit 10- und 15-jährigen Buben das letzte Wort haben werden. Um dieses Ziel zu erreichen bleibt nichts anderes übrig, als zur alten, aber richtigen Methode zurückzukehren — und das trotz der Evolution! L.

 

 

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[1] L.Vo. 1.10.1919, S. 1. - Wer sich hinter dem Kürzel "L" verbirgt, lässt sich nicht feststellen.