Der "Liechtensteiner Volkswirt" berichtet über den Rheineinbruch


Leitartikel im "Liechtensteiner Volkswirt" (Dienstagsausgabe der "Liechtensteiner Nachrichten") [1]

27.9.1927

Rhein-Not

Ein fürchterliches Unglück hat uns heimgesucht. Der Rhein ist durchgebrochen! Mehr als die Hälfte der Talsohle ist unter Wasser... Ein trüber entsetzlicher Strom fliesst zur Stunde über Flächen, wo gestern zur gleichen Stunde noch Kartoffel, Mais, die ganze Feldfrucht standen. Die Strassen deuten heute Baumwipfel, die knapp aus der grauen Flut heraus ragen, an. Wo Häuser und Ställe sind, sieht man noch Dachreste. Wo Menschen gearbeitet haben, einen langen Sommer hindurch auf einen Herbstsegen hofften und mühselig schafften, wo Menschen ein Heim und Glück hatten, fliessen unbarmherzig die fürchterlichen grauen Fluten... Und wo Gemeinden mit Eifer und Geschick wirtschafteten, und wo das Land mit schönen Erfolgen und Stolz viel Fortschritt und Segen schuf, das ist unbarmherzig vernichtet, auf viele Jahre hinaus ist alles zu Grunde gerichtet, Strassen und Ernte, Häuser und Stall und der Spender des Segens, – der Boden. Wer heute Nachmittag die vielen Kilometer Wasserwüste gesehen hat, – es hat keiner mehr das Wort zum Troste gefunden. Die Augen sind einem nass geworden.

Die Samstag Nacht

Seit 10 Uhr giesst es ohne Unterlass. In gleichmässigen festen Strömen. Der Sonntag Morgen zeigte sorgenvolle Gesichter. Der Rhein steigt. Und in den Bergen, besonders gegen Graubünden, kompakte gelbliche Regenwolken. Nach der Kirche ging die halbe Gemeinde zum Sorgenkind, zum Rhein hinaus. Er stieg. 6 Meter. 6½ Meter. 7 Meter. Vor den Brückenpfeilern warfen sich hoch die schmutzigen Wogen. Holz, Wurzeln, Baumstämme, Latten kamen. Die Wache wurde aufgestellt. Die Gefahr wuchs und wurde unmittelbar. Man hoffte noch. -

Früh 8½ Uhr hatte sich der Himmel etwas gelichtet. Auf den Bergen sah man Schnee. Die Hoffnung: Wenn es fest schneit, und der Regen hört. Der hohe Stand ist auch in anderen Jahren schon erreicht worden. Doch der Himmel schliesst sich, und der Regen wird stärker.

Sonntag Nachmittag

An den Brücken schlägt das Wasser höher. In Vaduz erreichen die Spritzer die Verschalung. In Schaan müssen sie bereits die Seitenbretter der Brücke wegreissen. Das Wasser schiesst dort bereits in Brückenhöhe über die Planken. In Balzers und Bendern erreichen die Wogen gegen Spät-Nachmittags auch die Brückenhöhe. Balken und Baumstämme kommen mehr und mehr und die Flut wird zum unheimlichen Riesen-Strome. Ein Brückenteil kommt vom Bündnerland herunter. Mit Herzklopfen wird der feste Holzkomplex an allen Brücken erwartet. Es geht mit Glück. Er zerschellt und rutscht durch. Noch kam es zu keiner gefährlichen Stauung.

Gegen Abend beginnt die grosse unmittelbare Gefahr bei der Eisenbahnbrücke. Sie liegt etwas tiefer als die Rheinbrücken. Der Mittagsschnellzug konnte noch durch. Nachdem Arbeiter den ganzen Tag mit Wegräumen des Holzes, das auf die Brücke geworfen wurde, schwer zu tun hatten. Die Arbeit musste Spätnachmittag eingestellt werden. Hunderte von Klafter Holz waren auf dem Eisengeländer und verklemmt in allen Teilen. Eine gefährliche drohende Holzwand baute sich undringlich [!] auf. Das Wasser erreichte Schaanerseits die Dammhöhe. Die ersten Bruchanzeichen zeigten sich knapp vor der Eisenbahnbrücke.

7 Uhr Abends

Die Mannschaft arbeitete was die Muskeln hergeben konnten, – das Unglück schien abgewendet. Da kam die doppelte Gefahr im Rücken der Leute. Neue Risse im Damme, die unheimlich schnell zum Bruch auswuchsen. Im gleichen Augenblick schoss eine mannshohe, schmutzige Woge herunter. Der Schrei der Leute diesseits und jenseits mischte sich mit dem fürchterlichen Krach vom stürzenden Fall und Kies und Wasser und brechendem Holz. Die stürzenden reissenden Wogen hinter sich und damit den Tod auf den Fersen rannte die Mannschaft einwärts. Ehe der letzte das Dorf erreicht, war das Wasser bereits bei den äussersten Häusern. Und in Sekunden war das ganze fürchterliche Elend da. Im gleichen Momente barst die hölzerne Schaaner Rheinbrücke.

Der Rheindamm ist auf 300 Meter durchfressen. Der Eisenbahndamm wurde auf 200 Meter wie ein Sandhaufen weggetrieben. Ein Stück Eisenbahnbrücke hängt ins Wasser herunter. Die Wellen haben in hemmungslosem Lauf, was ihnen im Weg stand, geknickt und begraben.

Sonntag Nacht

Das Wasser ist im ersten Anlauf bis zur Linde in Schaan vorgedrungen. Das Postbureau, das Stationsgebäude, alle Schuppen und Räume in gleicher Höhe haben 50 cm Wasser. Die Häuser jenseits der Eisenbahnlinie sind die ersten und schwersten Opfer in diesem Gelände geworden. Wasser bis zum ersten Stock. Zum Fliehen war es für viele zu spät. Durch die Nacht tönt das Rufen um Hilfe. Männer stehen bis zur Brust, die äusserste Kette steht bis zum Halse im reissenden schweren Wasser. Jeder Tritt ist Lebensgefahr. Jeder Balken kann den Tod bringen. Aus der Richtung eines Baumes hört man das Schreien. In erschöpftem Zustande wird ein Teil der vom Wasser Abgeschnittenen geborgen. In unkenntlichem Zustande kommen die Retter zurück. Es regnet. Die Nacht ist tiefschwarz. Und durch den Lärm der Wasser gellen unablässig die fürchterlichen Alarmsignale. Der Beste kann die Nerven verlieren.

In Triesen war ebenfalls Aufgebot bis Nachts 2 Uhr. Beim schwergefährdeten Heillos wurde gearbeitet. Der schwerste Anprall der Fluten wurde von der Dammverlängerung rheinabwärts aufgefangen. Es hat standgehalten. Und damit wurde Triesen und Vaduz gerettet. Zwischen Balzers und Triesen stauten sich die Wassermassen. Einen halben Meter tief rauschte es auf der neuen Strasse. Das Elektrizitätswerk versagte, wahrscheinlich durch Mastenbruch. Eine Verbindung hinauf war unmöglich. Die Brücke in Balzers hat standgehalten. Es wäre vielleicht um Minuten gegangen. Denn die Seitenbretter sind teils durchschlagen und weggespült. Balken haben die Wände durchschossen und liegen auf der Brücke. Über die Passierbarkeit der Brücke und den Zustand der Pfeiler liegen noch keine Berichte vor.

Die grauenvolle Nacht, die Eschen, Bendern, Mauren und das arme Ruggell hatten, ist noch nicht berichtet. Die Gemeinden sind noch ohne jede Verbindung.

Montag Morgen

In Schaan liegt ein Toter. Der Bahnbeamte [Alexander] Prestel wollte, als der Rhein hereinbrach, mit seiner Frau in sein Haus zurück. Die Wellen spülten ihn und seine Frau weg. Es war unmöglich, Hilfe zu bringen. Prestels Leiche fand man Montag, die der Frau noch nicht.

In den Strassen liegt der Schlamm. In den Gärten und Zäunen und Kellerfenstern hängen angeschwemmtes Gestrüpp und Schmutz. Das Bahngeleise von Schaan abwärts ist unterspült und gebrochen. Auf der Strasse nach Bendern stehen die Bäume anfangs ein Drittel und gegen Weghälfte bis zu den Wipfeln im Wasser. Das ganze Rheinwasser fliesst in voller Flucht Eschen zu, staut sich in einer weiten Bucht bis zur Kirche in Tosters und findet den Abfluss endlich in der Richtung Ruggell.

In Ruggell

Das arme, arme Dorf. Wie es heute Nachmittag von der Höhe Schellenberg aus sah – kann das traurige Bild nicht vergessen. Mitten durchs Dorf reisst der Strom. Einige Häuser stehen bis zum ersten Stock, andere noch höher im Wasser. Man sieht aus den Fenstern das hilfesuchende Winken und hört Rufen. Auf das Schellenberger Gelände ist ihr Vieh gerettet und mehrere Männer. Aber die Frauen, Kinder und alten Leute sind ausnahmslos dort im Wasser. Und wissen nicht, was für ein Schicksal ihre Männer getroffen. Und die Männer stehen am Wasser, zu weit um sich kenntlich zu machen, und haben keine Möglichkeit hinüber zu gelangen. Und die Einsturzgefahr der Häuser wächst von Stunde zu Stunde. Einen Neubau rechts beim Dorf sieht man bereits eingestürzt. Der Lehmboden ist bald unterwaschen und das Wasser scheint eher zu steigen und reissender zu werden. Die Flut hinaus treiben gelbe Punkte, Kürbisse.

Um ½3 Uhr Nachmittags kommt endlich endlich Hilfe. Herr Landeshauptmann Dr. [Otto] Ender aus Bregenz hat persönlich einen Transport von 5 Boten zur Stelle geleitet. Weitere Bote und grosse Pontons sind unterwegs und möge der Himmel es fügen, dass bis Nacht die Gemeinde gerettet ist, denn eine zweite Nacht werden die Mauern und die Nerven der armen Leute nicht aushalten.

Eschen, Gamprin, Bendern

Die schöne Fabrik in Eschen steht 1½ Meter im Wasser. Die Häuser jenseits der Kirche, rheinabwärts haben die Fluten im zweiten Stock. Der Stall der Mühle in Gamprin ist weggespült.

Die Hilfe

Herr Regierungschef [Gustav] Schädler hat sofort telefonisch und telegraphisch die Hilfe der Nachbarschaft erbeten und erhalten. Unsere Nachbarn haben ihre Hilfe in grosszügiger Weise und mit der Hilfsbereitschaft warme teilnahmsvollste Freundschaft zugesagt und sofort verwirklicht. Wir werden ihnen den Dienst nicht vergessen. Wie bereits oben angeführt mobilisiert Herr Landeshauptmann Dr. Ender Schiffe und Pontons aus Vorarlberg.

Meldung Abend 10 Uhr

Der Landtag bestellte zur Bearbeitung der täglich vorkommenden dringenden Fragen ein engeres Komittee, in welchem Herr Regierungschef Prof. Schädler das Präsidium führte und Herr Oberingenieur [Karl] Böhi von der schweizerischen Rheinkorrektion die technische Leitung innehat. [2] Dem Komitee gehören weiter an Herr Landamann [Alfred] Riegg von St. Gallen, Herr Rheinbauingenieur [Arnold] Altwegg von St. Gallen, der Herr Ortsvorsteher von Schaan [Ferdinand Risch], Herr Baumeister Lorenz Hilti Schaan, Herr Kantonsingenieur Altweg St. Gallen, Herr Rheinbauingenieur Doca [Carl Doka] von Rorschach und Herr Abg. [Josef] Steger von Balzers. Die Vorarlberger Landesregierung stellte in sehr verdankenswerter freundnachbarlicher Weise 174 Mann vom Alpenjäger-Battalion und anderes Personal bei. Von Nofels nach Ruggell fuhren Montag Nachmittag 12 Schiffe zur Bergung der noch in Ruggell befindlichen Einwohner. Die schweizerischen Behörden sandten am Montag Abend in echt freundnachbarlicher und sehr verdankenswerter Weise 210 Mann Genietruppen (Sappeure) von Chur, die mit grosser Ausrüstung eintrafen.

Das engere Komitee arbeitete zuerst einen Arbeitsplan aus und traf Vorbereitungen zur Schliessung der Damm-Lücke in Schaan. Um dem Wasser einen rascheren Abzug zu sichern und die Ruggeller Bewohner vor noch grösserem Ungemach, vor gänzlichem Verderben zu schützen, wurde im Laufe des Montag Nachmittag eine Lücke in den Rheindamm unterhalb der Benderer Rheinbrücke gesprengt. Die Arbeiter hiefür wurden in ebenfalls sehr verdankenswerter Weise von den Basalt-Werken bereitgestellt.

Der Landtag tritt erst wieder zusammen, wenn die Arbeiten im vollen Gange sind.

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[1] L.Volkswirt, Nr. 24, 27.9.1927, S. 1f. (=L.N., Nr. 95).
[2] LI LA LTP 1927/076.