Leitartikel in den "Oberrheinischen Nachrichten", ungez. [1]
16.11.1918
Liechtensteiner!
Am 7. November 1917 [!] wurde auf Antrag des Herrn Landesverwesers [Leopold von Imhof] vom Landtag eine aus drei Mitgliedern bestehende Regierung gewählt. [2] An Stelle von Herrn [Emil] Batliner wurde Herr Marxer Franz Josef, Eschen, gewählt. [3]
Die letzte Nummer des "Volksblatt" ergeht sich in Schmähungen und Verleumdungen gegen den früheren Landesverweser, gegen Herrn Dr. [Martin] Ritter und verschiedene Abgeordnete. [4] Aber solche Auslassung lassen uns und lassen viele Liechtensteiner kalt.
Liechtensteiner, gehen Euch ob solcher Sprache nicht die Augen auf? Sehet Ihr endlich ein, wer es mit Fürst und Volk gut meint und wer nicht. Prüfet einmal jene Schreiber, prüfet jene Männer, die Euch zu einer Volksregierung verholfen haben und dann urteilet!
Liechtensteiner Volk! Ist es zuviel verlangt, wenn Du endlich im 20.Jahrhundert eine aus Landeskindern bestehende Regierung erhalten sollst? Das wird kein aufrechter Volksmann behaupten. Alle zustimmenden Abgeordneten haben die Sache gründlich erwogen und haben im Verein mit dem Regierungschef das getan, was nach ihrer Ansicht zum Heile gereichen wird. - Selbst unser Landesfürst [Johann II.] hat das Vorgehen genehmigt. [5] Wozu denn also diese beleidigende und aufreizende Sprache? Liechtensteiner Volk! Lass Dich nur nicht aufreizen von jenen Leuten, die ihre Verdienste noch erwerben müssen.
Niemand gedenkt den Fürsten abzusetzen und die Republik einzuführen. Wollen sich die Leute nicht irreführen lassen! Was fortschrittliche Männer wollen, ist eine demokratische Landesverwaltung im Rahmen der Monarchie. Wir wünschen ähnlich wie Belgien ein Volksfürstentum. Liechtenstein soll erst recht die Heimat der Liechtensteiner sein. Keinen fremden Verwaltungsbeamten wünschen wir an der Spitze unseres Landes. Fort mit allem, was irgendwie einen absolutistischen Beigeschmack haben könnte, fort aber auch mit allem Persönlichen; das Sachliche soll ausschlaggebend sein. Der Einfache wie der Angesehene, der Reiche wie der Arme wird beim neuen Regierungssystem sein Recht finden.
Wenn wir in Zukunft inmitten von Freistaaten eine Monarchie sein und bleiben wollen, dann muss es eine demokratische Monarchie sein. Man überlege sich einmal unsere Zukunftsstellung. Selbst das "Vorarlb. Volksbl." - gewiss ein unverdächtiger Zeuge - hat sich in scharfen Worten über unsere autokratische Regierungsform ausgedrückt, [6] selbst es redet einer parlamentarischen Regierungsform das Wort und verlangte erst neulich, noch bevor Deutsch-Österreich zur Republik überging, eine Demokratie mit monarchischem Einschlag. [7]
Wertes Liechtensteiner Volk! Lass Dich ob der Sprache einiger Unberufener nicht irreführen, stehe treu zur neuen Regierung und freue Dich, dass Du endlich eine aus einheimischen Bürgern bestehende Regierung besitzest. Ist es nicht traurig, wenn selbst gebildete Liechtensteiner im Landtag behauptet haben, liebes Liechtensteinervolk, Du enthaltest keinen zu Deiner Regierung fähigen Mann? [8]
Besonnene Männer, haltet erst recht fest und treu zusammen, scharet Euch um das Banner der neuen Regierung, denn auf ihm stehen die Volksrechte der Zukunft, es beschattet die Demokratie im Rahmen der Monarchie! Ruhige Männer des Volks, habt stummen Abscheu vor jener Sprache, der jeder moderner Hauch abgeht. Wie echt jene Worte zu nehmen sind, ersieht man daraus, dass auf Grund der fürstl. Bestätigung der neuen Regierung einzelnes als "hinfällig" bezeichnet wird. [9]
Hoch die Demokratie im Rahmen der Monarchie!
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[1] O.N., Nr. 47, 16.11.1918, S. 1.
[2] Der Vollzugsausschuss bestand aus Martin Ritter (Vorsitzender), Wilhelm Beck und Emil Batliner. Vgl. LI PA Quaderer, Nachlass Wilhelm Beck, handschriftliches Protokoll der Landtagssitzung vom 7.11.1918; ebd., stenographisches Protokoll der Landtagssitzung vom 7.11.1918; L.Vo., Nr. 46, 15.11.1918, S. 3f. ("Zur Landtagssitzung vom 7. des Monats"). Ein offizielles Protokoll existiert nicht.
[3] In der Landtagssitzung vom 12.11.1918 (LI LA LTA 1918/S04/2).
[4] Vgl. z.B. L.Vo., Nr. 46, 15.11.1918, S. 2 ("An alle Liechtensteiner!").
[5] Der Fürst hatte Imhof am 13.11.1918 des Amtes enthoben und die Fortführung der Regierungsgeschäfte durch den Vollzugsausschuss zur Kenntnis genommen (LI LA PA 001/0021/08, Telegramm Johann II. an Imhof, 13.11.1918).
[6] Vgl. dazu O.N., Nr. 47, 16.11.1918, S. 3 ("Zum Regierungswechsel"). Der dort zitierte Artikel findet sich allerdings nicht im "Vorarlberger Volksblatt".
[7] Vgl. z.B. "Vorarlberger Volksblatt", Nr. 259, 10.11.1918, S. 2f. ("Republik oder Monarchie?").
[8] Anspielung auf eine Äusserung von Johann Baptist Büchel in der Landtagssitzung vom 7.11.1918 (vgl. Anm. 2).
[9] L.Vo., Nr. 46, 15.11.1918, S. 4.