Die „Neuen Zürcher Nachrichten“ verwahren sich gegen die Vorwürfe des „Bundes“ gegen Liechtenstein in Sachen Lebensmittellieferungen, Kartoffelanbau und Viehausfuhr


Anonyme Entgegnung im „Liechtensteiner Volksblatt" [1]

17.11.1916

Zur Teuerung im Fürstentum Liechtenstein schreiben die „N. Züricher Nachr.": [2]

Wiederholt befasste sich der „Bund" in Bern mit dem Notstande des kleinen schweiz. Nachbarstaates Liechtenstein. Dem Schreiber dieser Zeilen ist leider nur das zu Gesicht gekommen, was obgenanntes Blatt in Nr. 509 brachte. Es genügt dies aber, um nicht nur einen Liechtensteiner, sondern jeden Schweizer aufzubringen, der das Gastrecht im geschmähten Lande geniesst. Eine solche Schreibart muss eine böswillige Verdächtigung des Landes und des Volkes genannte werden und sie muss auch jeder aufrechte Schweizer entschieden verurteilen. Die Schreiberei ist nur darauf gerichtet, die Schweizer gegen ihre Nachbarn, die Liechtensteiner, aufzuhetzen, und zwar grundlos aufzuhetzen. Der Schreiber des „Bund" wirft den Liechtensteinern Undank vor, für alles, was ihnen von schweizerischer Seite seit der Kriegszeit geleistet wurde. Nichts ist indessen unwahrer als dieser unbewiesene Vorhalt. Der angebliche Undank widerspricht schon der angestammten Sympathie der Liechtensteiner für die Schweiz bezw. für die Schweizer. Noch nie hatte der Schweizername so guten Klang im Ländchen und noch nie war der Schweizer willkommener und beliebter, um nicht zu sagen volkstümlicher, als seit dem Kriege. Und dies ist nicht bloss vorübergehender Eindruck, sondern die längst gewonnene Überzeugung des Schreibers dies, der, nebenbei bemerkt, als Schweizer über 20 Jahre mitten im Volke Liechtensteins lebt.

Es wird ferner Liechtenstein vorgeworfen, es sei „ohne sichtliches Entgegenkommen". Seine Landeskunde besagt, dass es 159 Quadratkilometer Flächeninhalt habe und dass der grösste Teil des Landes Gebirgsland sei. Als Gebirgsland ist es hauptsächlich auf die Viehzucht angewiesen, gerade so wie die Bergkantone unserer Schweiz. Es ist auch der Viehexport nach Österreich, welcher der Herr Einsender des „Bund" den Liechtensteinern als Kapitalsünde anrechnet. Will er damit sagen, dass Liechtenstein sein Vieh als Entgegenkommen an die Schweiz abgeben sollte? Es wäre dies die reinste Heuchelei; exportiert doch die Schweiz selber 40'000 Stücke, was ja weltbekannt ist, und zudem geht ihr Export, wie der Liechtensteins, teilweise auch nach Österreich. Beide letztere Länder haben die gleiche Geldwährung und ist deshalb beider Staaten Geld gleich viel oder gleich wenig wert. Das Ländchen Liechtenstein hat sodann wiederholt bedeutende Mengen Bauholz nach der Schweiz ausgeführt und bei guten Weinernten auch seine gesuchten Weine in die Schweiz geschickt. Zugegeben, dass mehr Kartoffeln gepflanzt werden könnten, um einen etwaigen Überschuss an die Schweiz abzugeben, kommt immerhin die Widerfrage, warum die schweizerischen Berglagen nicht genügend Kartoffeln pflanzen, die doch in Liechtenstein bis auf 1500 Meter Höhe angepflanzt werden. Die Frage stellen, heisst auch sie beantworten.

Der Herr Einsender im „Bund" behauptet sodann, dass in Liechtenstein kein grösserer Notstand herrsche als in der Schweiz, womit er seinen falschen Berichten die Krone aufsetzt. Schreiber dieser Zeilen kennt hier Familien, in denen man mit „Grüschen" [3] Brot gebacken hat und welche monatelang ohne Fett sind, dann bald ebensolange ohne Mehl, bald ohne Kartoffeln waren. Wo in der ganzen Schweiz liessen sich ähnliche Verhältnisse aufweisen? In unserer Schweiz bekommt man noch alles, nur mit Preisaufschlag, während der Liechtensteiner vieles Notwendige um kein Geld mehr bekommt. Es sei zugegeben, dass der Notstand nicht in allen Gemeinden Liechtensteins gleich ist, gleich ist aber überall der Dank an die Schweiz in Liechtenstein, und das zu konstatieren ist der Zweck dieser Zeilen.

______________

[1] L.Vo., Nr. 46, 17.11.1916, S. 2. Die Berner Tageszeitung „Der Bund" hatte das angeblich mangelnde Entgegenkommen Liechtensteins für die schweizerischen Lebensmittellieferungen an das Fürstentum kritisiert (Der Bund, Nr. 509, 29.10.1916, S. 3). Beanstandet wurde insbesondere die Ausfuhr grösserer Mengen von liechtensteinischem Zucht- und Schlachtvieh nach Österreich, wobei die Schweiz den liechtensteinischen Viehbestand wieder ergänzt habe. Auch verfüge Liechtenstein noch über sehr guten, unbepflanzten Boden für den Kartoffelanbau. Dieser Artikel war in den „Oberrheinischen Nachrichten" wiedergegeben worden (O.N., Nr. 45, 4.11.1916, S. 2 ("Teuerung im Fürstentum Liechtenstein")).
[2] Neue Zürcher Nachrichten, Nr. 312, 11.11.1916, 3. Blatt, S. 1 ("Teuerung im Fürstentum Liechtenstein").
[3] Grüsche: Kleie.