Die „Oberrheinischen Nachrichten“ verwahren sich erneut gegen die beabsichtigte Bestellung eines Ausländers zum Landesverweser ("Regierungsvorsitzenden")
Artikel in den „Oberrheinischen Nachrichten" [1] 14.4.1920 Zur Landesverweser-Frage Nachdem in dieses Kapitel nun Licht durch dieses Blatt hineingebracht [2] und die etwas eigentümliche Tätigkeit einiger Politiker in Wien und im Lande berührt worden ist, stellen wir einfach unsern Standpunkt fest und beanspruchen gar nicht einen vom Zaun gebrochenen Streit. Mit aller Entschiedenheit stellen wir fest, dass die Volkspartei den Leitsatz vertritt, dass Liechtenstein von Liechtensteinern regiert werde und nicht von Ausländern. Das wäre noch schöner, wenn der alte, jammervolle Zustand wie in einer Kolonie weiter bestehen sollte. Die europäischen Staaten schicken in ihre Kolonien die höchsten Verwaltungsbeamten (Gouverneure) und die Richter. In ähnlicher Weise geschieht das bei uns, wie in diesem Blatte festgestellt wurde. Wir sind unter diesen Umständen Kolonieland auswärtiger Herren, denn der Name ändert nichts an der Sache. Es ist unwahr, dass ein Grossteil der Volkspartei und auch Delegierte (welche?) mit dem ausländischen Charakter der Regierung und deren Besetzung durch einen Ausländer einverstanden ist. Das kann nur behaupten, wer die Stimmung nicht kennt, und die Zeit wird dies noch beweisen. Vielfach ist man der Überzeugung, dass man die Landschreiberstelle [3] mit einem gebildeten Juristen besetzen solle. Dieser hat die laufenden Geschäfte nach der juristischen Seite hin vorzubereiten und der Regierung beziehungsweise dem Vorsitzenden zur Genehmigung und Unterschrift vorzulegen. Wenn dies der Fall ist, kann die Regierung mit Inländern bestellt werden. So ist es zum Teil in den für uns nach mancher Richtung hin vorbildlichen Kleinkantonen der Schweiz. Dort suche man sich einmal die Muster mit den anerkannten deutschrechtlichen Einrichtungen. Beispiele für uns bieten auch zum Teil die kleinstaatlichen Einrichtungen ehemaliger deutscher Fürstentümer. Sie haben keine Ausländer als Regierungsherren. Muss denn bei uns alles nach österreichischer Schablone und Erziehung gemessen werden, als ob Deutschland und die Schweiz nicht existierten? Auf die ehemalige österreichische Länderverfassung können wir nicht abstellen, obwohl dies leider in der alten Verfassung [4] geschehen ist, wie schon der berühmte Staatsrechtslehrer [Johann Caspar] Bluntschli dies festgestellt hat. Liechtenstein ist kein solches „Land", sondern ein selbständiger Staat. Die Regierung sollte unter Berücksichtigung der Berufs- und Parteiverhältnisse der Bürger vom Landtage in Verbindung mit dem Fürsten oder ähnlich bestellt sein, und zwar nach den Regeln eines streng parlamentarischen Regierungssystems. Andernfalls kann sie sich eben weder auf Vertrauen aller Bürger noch der Berufe berufen. Die drei Regierungsmitglieder [5] hätten die Regierungsgeschäfte unter sich zu verteilen. Der Regierungsvorsitzende – nicht Landesverweser! – amtiert ständig, die andern Mitglieder vielleicht nur an Regierungs-Sitzungstagen. Damit die Geschäfte beschleunigt werden, müssten einerseits die Akten, welche das Ressort eines Regierungsmitgliedes betreffen, diesem zur Behandlung und Berichterstattung zugestellt werden. Dringliche gewöhnliche Laufsachen aber hätten Vorsitzender und Schreiber gemeinsam und unter ihrer Verantwortung zu unterschreiben. Die Regierungsgeschäfte könnten nun entsprechend unsern kleinen Verhältnissen etwa folgendermassen aufgeteilt werden: Der Vorsitzende übernimmt ausser obigen Geschäften die Verwaltung des Administrations- u. Gerichtswesens, das Schul- und Kirchenwesen, Sanitätssachen und Äusseres. Ein anderes Mitglied, das zugleich Stellvertreter des Vorsitzenden ist, besorgt zum Teil die Geschäfte des sog. Landeskulturwesens (Strassen, Kanäle, Rheinsachen, Rüfen usw.), u. das dritte Regierungsmitglied übernimmt die Landwirtschaft, Waldwirtschaft, Alpen und das Finanzwesen. Die Regierungsmitglieder erhalten Taggelder. Auf diese Weise erhalten wir eine einheimische Regierung. Ähnliche Einrichtungen finden wir in kleinen Staaten. Warum soll es denn bei uns nicht möglich sein? Das ist nun ein praktischer Vorschlag, der natürlich noch Verbesserungen zulässt. Leute für die Regierungsposten finden sich schon aus Landesbürgern. Wenn sie das gemeinsame Vertrauen der Parteien geniessen, ist nicht einzusehen, warum Liechtenstein nicht von eigenen Landsleuten solle regiert werden können. Bei gutem, ehrlichem Willen ist alles möglich. Einem Ausländer vermögen viele Vertrauen niemals mehr entgegenzubringen, mag er noch so ehrenwert und tüchtig sein. Es gibt ja noch viele Ausländer, die den Postenleicht versehen könnten, die Tüchtigkeit allein tuts nicht. Einen Ausländer wollen wir nicht. Entweder sind wir ein selbständiger, unabhängiger Staat, der sich selbst zu regieren imstande ist oder wir sind es nicht. Im erstern Falle aber verträgt sich die Behauptung, wir hätten keine Regierungsleute, schlecht mit der so stolz betonten Selbstständigkeit. Wir sind eben nicht mehr selbständig, sondern stehen dann unter ausländischer Verwaltung. Was man mit dieser Auslandsregierung schlagend dartut, ist die Unselbständigkeit. Wenn wir unfähig sind, den eigenen Staat zu regieren, muss folgerichtig gefragt werden, ob wir die formale Selbständigkeit noch verdienen oder in einem andern Staate aufgehen sollen. Der Wunsch Vieler geht auf Erhaltung der Selbständigkeit und dazu gehört Ausschaltung der fremden Regierungsmitglieder. Es ist gerade eine Verdienst der Volkspartei, dass sie auf diesem Standpunkte steht und daran festhalten wird. Und bedauert muss das vielleicht unbewusste Streben jener Kreise nach Untergrabung dieser Selbständigkeit werden, die landsfremde Beamte an die Regierung setzen wollen. Wir schicken den Vorarlbergern auch keinen Landeshauptmann, den St. Gallern keinen Landammann und den Österreichern keinen Präsidenten. Das würden sich jene Völker nicht gefallen lassen. Sollen wir es aber uns gefallen lassen? Entweder ganz eigen oder ganz fremd! Dagegen protestieren wir heute schon! Gegenüber Herrn Dr. [Eugen] Nipp und seinen Herren ist folgendes festzustellen: 1. Wie in unserm Artikel [6] ausgeführt, ist nach uns bestimmt zugekommenen Berichten die Landesverwesernachfolge am Wirtstisch in Schaan u.a. vom Herrn [Landtags-]Präsidenten Fritz Walser an die Öffentlichkeit gebracht und nachher in andern Wirtschaften erzählt worden. Einem Mitgliede der Volkspartei ist die Sache zur Fühlungnahme mit den Parteileuten mitgeteilt worden. Das ist auch geschehen. Nur weil die Angelegenheit zuerst in Schaan bekannt gemacht und dann im Lande bekannt wurde, haben wir sie im Blatte veröffentlicht. Sollen wir schweigen zu einer Sache, die herumgeboten wird? Wie es daher mit der Preisgabe eines Vertrauens durch uns steht, mag jeder Leser selbst beurteilen! Die Äusserung des Präsidenten wurde uns so hinterbracht, wie sie im Blatte stund. 2. Durch die Aufklärung im „V. Bl." wird zugegeben, das Herr Dr. Nipp und Dr. [Otto] Walser Herrn Dr. [Josef] Peer als Landesverweser dem Fürsten [Johann II.] in Wien vorgeschlagen haben und dass Präsident Walser in die Sache eingeweiht war. [7] Seinerzeit verlangte man eine Aufklärung im Blatte, warum Herr Dr. Nipp nach Wien reiste und wer ihn eingeladen habe. [8] Durch seine eigene Aufklärung erhalten wir nun Aufschluss herüber. Aus jenem Artikel geht auch unschwer hervor, wie man unter Umgehung der Volkspartei dem Lande einen fremden Landesverweser geben möchte. Es ist das eine Herausforderung der Volkspartei und einzelner Mitglieder, die nicht ruhig hingenommen werden kann. Gegen dieses Vorgehen, das ein politischer Faustschlag ist, wird vorerst Protest eingelegt. Es gibt wohl – um es nochmals zu sagen – keinen selbständig und unabhängig sein wollenden Staat auf Gottes Erdboden, der eine aus fremden Staatsbürgern, daher aus Untertanen eines fremden Staates zusammengesetzte Regierung haben soll. Und kein Volk, das auf seiner Ehre etwas hält, lässt sich derartig einen Regierungsvorsitzenden aufoktroy[i]eren. Das vermag niemand mit allen Fehl- und Trugschlüssen klar zu machen. Was nun niemand duldet, das sollen wir uns gefallen lassen, wir, die angeblich selbständigen Liechtensteiner, sollen Ausländer zur Durchführung der Währungsreform, zur Verfassungsrevision und schliesslich zum Vorsitze bei der Regierung beiziehen. Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr alles gibt an ihre Ehre. [9]
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[1] O.N., Nr. 30, 14.4.1920, S. 1. Der Artikel stammt vermutlich von Wilhelm Beck. Es handelt sich um eine Entgegnung zu: L.Vo., Nr. 29, 10.4.1920, S. 1 („Zur Landesverweser-Frage"). [2] O.N., Nr. 28, 7.4.1920, S. 1 („Liechtenstein - den fremden Beamten"). Darin wurde über den Pläne der Bürgerpartei und des Fürstenhauses berichtet, Josef Peer, Richter am österreichischen Verwaltungsgerichtshof, zum liechtensteinischen Landesverweser zu bestellen, Vgl. in diesem Zusammenhang das Schreiben von Prinz Eduard an Landesverweser Prinz Karl vom 6.4.1920 betreffend diesbezügliche Sondierungsgespräche in Vaduz am 1.4.1920 (LI LA SF 01/1920/062). [3] Beck verwendete anstelle des Begriffes „Regierungssekretär" konsequent den Begriff „Landschreiber". [4] Liechtensteinische Verfassung vom 26.9.1862. [5] Nach § 11 Abs. 1 2. Satz der Amtsinstruktion für die Landesbehörden des Fürstentums Liechtenstein bestand die Regierung aus dem Landesverweser, zwei Landräten, zwei Stellvertretern und dem Sekretär (Beilage zur Fürstlichen Verordnung vom 30.5.1871 über die Trennung der Justizpflege von der Administration, LGBl. 1871 Nr. 1). [6] Vgl. O.N., Nr. 28, 7.4.1920, S. 1 („Liechtenstein – den fremden Beamten"). [7] Vgl. L.Vo., Nr. 29, 10.4.1920, S. 1 („Zur Landesverweser-Frage"). [8] Vgl. O.N., Nr. 19, 6.3.1920, S. 1-2 („Wiener Verhandlungen"). [9] Zum weiteren Verlauf der Debatte vgl. etwa L.Vo., Nr. 31, 17.4.1920, S. 1-2 („Liechtenstein den Demagogen?").
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