Maschinenschriftliches Schreiben von Regierungschef Gustav Schädler an Reto Caratsch [1]
9.9.1926
Sehr geehrter Herr Doktor!
In Erledigung Ihres gesch. Schreibens vom 27. v. Mts. [2] beehre ich mich, Ihnen mitzuteilen, dass die Zahl der stimmberechtigten liechtensteinischen Bürger zirka 2200 beträgt.
Die Verfassung von 1921 [3] ist infolge grosser Mängel, die die veraltete Verfassung von 1862 [4] aufwies und der demokratischen Entwicklung, die sich in Liechtenstein seit langem geltend gemacht hatte, zustande gekommen. Die Verfassung von 1862 liegt zu Ihrer Bedienung bereit. Die Bewegung für die neue Verfassung wurde namentlich auch dadurch ausgelöst, dass seit vielen Jahrzehnten immer ausländische Landesverweser als Repräsentanten des Fürstenhauses und der Regierung im Lande amtierten [5] und die Bedürfnisse des Volkes wenig kannten.
Zur Verfassung ist das Gesetz vom 31. August 1922, Nr. 28, betreffend die Ausübung der politischen Volksrechte in Landesangelegenheiten [6] erschienen. Ich lege Ihnen dieses Gesetz bei. Sie können die Antwort auf Ihre weiteren Fragen aus demselben erschöpfend entnehmen.
Ihrer Auslegung, dass Art. 111, Abs. 2 betreffend die Initiative zur Verfassungs-Änderung entspricht vollkommen meiner Ansicht. [7]
Soferne Sie weitere Auskünfte wünschen, stehe ich gerne zu Ihrer Verfügung.
Mit der Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung sowie beste Grüsse an Herrn [Robert] Thomann und Herrn [Ernst] Rietmann zeichnet
ergebenst
______________
[1] LI LA RE 1926/3376. Kürzel: N/K.
[2] Die Anfrage von Reto Caratsch findet sich ebenfalls unter der Signatur LI LA RE 1926/3376.
[3] Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5.10.1921, LGBl. 1921 Nr. 15.
[4] Verfassung vom 26.9.1862.
[5] Landesverweser Karl von In der Maur stammte beispielsweise aus einer Südtiroler Adelsfamilie und wurde 1852 in Wiener Neustadt geboren; Landesverweser Leopold von Imhof wiederum stammte aus Salzburg.
[6] LGBl. 1922 Nr. 28, insbesondere der III. Abschnitt des Gesetzes.
[7] Caratsch hatte in seiner Anfrage an Schädler die Auffassung vertreten, dass nach Art. 111 Abs. 2 der Verfassung von 1921 die Zustimmung des Landtags zu einer Verfassungsinitiative nur mit Einstimmigkeit oder mit zweimaliger Dreiviertelmehrheit erfolgen könne und dass eine Volksinitiative, die nicht die besagte Zustimmung des Landtags finde, dem Referendum unterstellt werden müsse.