Reto Caratsch von der „Neuen Zürcher Zeitung“ orientiert sich über die liechtensteinischen Verfassungen von 1862 und 1921


Maschinenschriftliches Schreiben von Reto Caratsch an Regierungschef Gustav Schädler [1]

27.8.1926, Zürich

Sehr geehrter Herr Regierungspräsident

Mit einer Studie über die Volksgesetzgebung beschäftigt, [2] wäre es mir sehr nützlich, zu wissen, wie hoch die Zahl der stimmberechtigten Bürger des Fürstentums Liechtenstein ist. Da in der liechtensteinischen Verfassung [3] bei der Volksinitiative die minimale Initiantenziffer, gleich wie in der Schweiz und im Unterschied von der amerikanischen und deutschen Regelung, absolut festgesetzt ist, wird das Verhältnis dieser Ziffer (400 bezw. 600) [4] zur Gesamtzahl der Stimmberechtigten sehr bedeutsam. 

Sollten Sie bereit sein, mir noch weiter entgegenzukommen, so wäre ich Ihnen sehr verbunden für die Zusendung einiger Notizen über die Art des Zustandekommens der Verfassung vom 5. Oktober 1921, über die Motive, die zu dieser weitgehenden Umgestaltung geführt haben, und über den Weg der einfachen und der Verfassungsgesetzgebung nach der alten Verfassung von 1862. [5] Wäre es wohl möglich, mir jene 1862er Verfassung für einige Tage zur Verfügung zu stellen. 

Den Art. 66 der liechtensteinischen Verfassung von 1921, Absatz 1 und 2, interpretiere ich in der Weise, dass der Landtag auch bei Zustimmung zu einer Volksinitiative zur Verfassungsrevision in Form des ausgearbeiteten Entwurfs von sich aus eine Volksabstimmung anordnen kann. 

Ferner gelange ich zur Interpretation, dass kraft Art. 111 Abs. 2 die Zustimmung des Landtags zu einer Initiative zur Verfassungsänderung nur mit Einstimmigkeit oder mit zweimaliger Dreiviertelsmehrheit erfolgen kann, und dass eine Volksinitiative in Form des ausgearbeiteten Entwurfs, die nicht die Einstimmigkeit bezw. doppelte 3/4-Mehrheit des Landtags findet, dem Referendum unterstellt werden muss

Empfangen Sie, geehrter Herr Regierungspräsident, die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung, sowie beste Grüsse meines Kollegen [Robert] Thomann.

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[1] LI LA RE 1926/3376. Ebd. findet sich auch das Antwortschreiben von Regierungschef Schädler an Reto Caratsch vom 9.9.1926.
[2] Vgl. in diesem Zusammenhang die 1926 erschienene Dissertation von Caratsch an der Universität Zürich: Die Initiative zur Verfassungsrevision: rechtsvergleichend dargestellt mit besonderer Berücksichtigung der französischen Verfassungsgeschichte seit 1789.  
[3] Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5.10.1921, LGBl. 1921 Nr. 15.
[4] Vgl. Art. 64 Abs. 1 Bst. c, Abs. 2 und Abs. 4 der Verfassung 1921.
[5] Verfassung vom 26.9.1862.