David Bühler an Wilhelm Marock über den Tod der Genofeva Marock [-Meier], eine Anekdote aus der Jugendzeit, die Erstkommunion seiner Tochter Olga und das Befinden seiner Ehefrau Wilhelmina Bühler [-Marock], die Krise der Stickereiindustrie in der Ostschweiz, in Vorarlberg und in Liechtenstein sowie die Brände in Vaduz und Schaan im Oktober 1907 bzw. im März 1908


Handschriftliches Originalschreiben des David Bühler, Mauren, an Wilhelm Marock, Hammond (Indiana) [1]

02.05.1908, Mauren

Mein lieber Wilhelm [2]!  

Dein letztes Schreiben habe gestern am 1. Mai empfangen
u. bitte vor allem um Entschuldigung, dass [3] ich Deinen ersten Brief
nicht beantwortete; ich bin nämlich im Frühjahre immer am meisten
in meinem Geschäfte in Anspruch genommen, da die meisten Käufe
und Pachtungen wie auch die allermeisten Exekutionen in das
Frühjahr fallen. Nun nehme ich mein bischen Hirn etwas zusammen
um Dir wieder einmal einige Gedanken zu Papier zu bringen.

Dein liebes Schreiben welches hauptsächlich zum Gedächtnisse Deiner
verstorbenen Mutter [Genofeva Marock [-Meier]] verfasst ist, hat uns alle tief ergriffen und nicht nur
einmal musste ich dasselbe unserem Verwandtenkreise vorlesen.

Das mir im letzten Schreiben übergebene Gebet am Grabe der
Verblichenen habe ich in Deinem Sinne verrichtet; auch der Blumenstrauss
und das neuerdings aufgetragene Vaterunser wird nicht fehlen.

Wie wird sich Deine Mutter in den ewigen Gefilden freuen, dass
sein Sohn ihr ein solches Gedächtniss widmet, welches wie ich genau
durchblike von so aufrichtigem Herzen, von so geprüfftem Gemüthe und
von einem Sohne kommt, der weit vom elterlichen Herde sich sehnsuchtsvoll
in die letzten Stunden u. das Leben und Wirken derjenigen im
Geiste versetzt, welche ihm natürlicher Art das Leben gab.

Auch sie, die Du nie vergessen kannst, hat viel an Dich und
auch an Deinen Bruder Josef [Marock] gedacht; sie wusste, dass Deine Brüder
des Schreibens weniger geübt, nie gern zur Feder griffen; sie nahm
mich desshalb oft bei der Hand u. sagte schüchtern und schlicht: „Schreibe wieder
einmal dem Wilhelm.“ Ein Brief von Dir brachte ihr stets unaussprechliche
Freuden. Mich selbst hat sie wie ein Sohn behandelt, meine Kinder liebte
sie wie eine Mutter u. versah noch 8 Tage vor ihrem Ableben bei
uns wie immer die Stelle eines Flikschneiders, welche Arbeit sie kunstgerecht
zu liefern verstand. Wenn ich ihr manchmal für solche Dienste eine
neue Schürze oder sonst ein Krämchen heimbrachte, so freute sie sich wie
ein Kind u. zeigte das Geschenk den Umgebenen. Wie glücklich wenn
man genügsam ist u. wenn man ob einer solchen Kleinigkeit, die
ich der Ahna gab mehr erfreut sein kann, als der Japanische Mikado [4]
bei der Eroberung Porth-Arthurs. [5]  

Ich werde Genofeva Marock durch mein ganzes Leben ein
Andenken bewahren und dasselbe auch auf meine Nachkommen fort-
zupflanzen versuchen.

Nebenbei noch eine kleine Anektode zu Deiner
Jugenderinnerung: Gestern Abend war Dein Bruder Andreas [Marock]
bei mir und, um mir begreiflich zu machen, was für einen Sinn
Du in Deinen Jugendjahren zur Schau getragen, erzählt er mir wie folgt:

Ich und mein Bruder Wilhelm mussten mit unserem Viehstande
in die Hinterbühle fahren um die Thiere dort weiden zu lassen. Bei diesem
Anlasse zündeten wir stets ein Feuer an. Wir suchten dann einen
glatten Stein, legten auf diesen eine glühende Kohle, schlugen, nachdem
wir auf die Kohle gespukt hatten mit einem Holzschlegel auf dieselbe,
was stets einen gewehrähnlichen Knall verursachte. [6]

Mein Bruder Wilhelm schoss an einem fort; ich kam nie zum
Schuss; er war flinker als ich und wenn ich einen schönen glühenden
Kohl aus dem Feuer suchte, auf den Stein legte und darauf spukte
that es schon wieder einen Knall, denn Wilhelm hatte schon mit dem
Schlegel den Schlag geführt. Ich sagte immer: „jetzt lasse mich einmal
schiessen“; er versprach mir immer den nächsten Schuss, doch immer
passierte mir das gleiche Schicksal.

Nun suchte ich die letzte schöne Kohle und erzwingte meiner bereits
eingetrokneten Kehle den letzten Speichel – pumps, der Wilhelm
hat den Schuss wieder selbst geführt, sieht mir aber an, dass er mich
zu stark gereizt hat u. läuft davon. Ich fasse trotz meiner Unbehändigkeit
den Schlegel u. werfe ihn nach, treffe aber nicht. Daneben liegt
noch der „Schnetzer[7] Küfermesser; ich werfe auch dieses dem Wilhelm
nach u. das Messer bleibt dem Wilhelm im Gesäss steken; er läuft
so noch ein Stück, verliert das Messer u. geht mit seiner klaffenden
Wunde nach Hause, drohend er werde den Vorfall den Eltern melden.

Mit Schrecken trieb ich die Kühe heim u. erwartete die Prügel.
Doch auffallenderweise blieb alles ruhig. Am anderen Tage kam die
Mutter bestürtzt aus unserer Kammer, sie wollte nämliche die Betten
herrichten u. fragte, welcher von Euch hat um Gotteswillen eine solche
Blutlache im Bett; ich wurde natürlich leichenblass, doch mein
Bruder Wilhelm erlöste mich von meinem Schrecken indem er
der Mutter vorgab, er sei gestern unvorsichtigerweise auf das
Messer gesessen. – –

Dein Bruder Andreas freut sich heute noch, dass Du ihn damals
nicht auf die Anklagebank stelltest.

Mir geht es hier so ordentlich; so lange ich gesund bin kann ich,
Dank dem guten Gange meines Geschäftes dem Ansturme meiner
lieben Gläubiger Stand halten. Meine Tochter Olga [Bühler] hat letzten Sonntag
die I. hl. Komunion empfangen. Auch in meiner Seele wurden
bei diesem erhabenen Akte Jugenderinnerungen wach und wirklich
gerührt musste ich auf diese unschuldigen Wesen bliken, die den Kampf
ums Dasein noch nicht begreifen und ein Herz, wie Gott es ihnen
gegeben, von Unkraut noch frei im Busen fühlen.

Mein Sohn Oswald [Bühler] wird nächstes Jahr Komunikant werden.
In der Schule kommen beide gut voran. Die Mina [Wilhelmina Bühler [-Marock]], meine Frau
lag einen Monat an Influenza darnieder; heute ist sie wieder
gesund und rüstig. Im übrigen Verwandtenkreise geht so alles seinen
gewöhnlichen Lauf; es ist nichts besonderes vorgefallen, das ich Dir
zu berichten hätte.

Für Deine Mühe zur Ermittelung der Adresse des Josef [Marock]
sage ich Dir hiemit Dank: Ich werde ihm schreiben.

Deinen lieben Schwiegereltern sage, dass ich Ihnen zu
ihrem seltenen Feste Namens unserer ganzen hiesigen Verwandtschaft
unsere herzlichsten Glückwünsche übersenden mit dem
ferneren Wunsche, dass sie auch die diamante Hochzeit in aller
Frische nach 25 Jahren feiern sollen. [8]

Von dem amerikanischen Bankkrache und der herschenden
Arbeitskrise bin ich durch die Zeitungen unterrichtet. Auch wir hier in
Europa, innsbesondere die Ostschweiz, Vorarlberg und Liechtenstein müssen
unter diesen amerikanischen Eindrücken stark leiden, indem die
Stikereiindustrie vollständig stokt u. die Lebensmittel zudem auf
höchsten Preisen stehen.

Von den grossen Bränden in Vaduz [9] und Schaan [10] habe
ich das letzte Mal berichtet u. bemerke nur noch, dass die Neubauten
überal in Angriff genommen sind.

Eben wollte noch etwas politische Neuigkeiten bringen,
werde aber geschäftlich abgerufen.

Will desshalb für diessmal Schluss machen und entbiete
Dir lieber Wilhelm u. allen den Deinen unsere herzlichsten Grüsse

Dein
D. Bühler

______________

[1] LI PA Marco Bühler. Brief in Kurrentschrift.
[2] In lateinischer Schrift. Auf weitere einschlägige Fussnoten wird verzichtet.
[3] Ursprüngliche Fassung: „daẞ“. Das Eszett wird im Folgenden zu „ss“ umgewandelt.
[4] Veraltete Bezeichnung des japanischen Kaisers.
[5] Im Zuge des russisch-japanischen Krieges von 1904/1905 kapitulierte die russische Festung Port Arthur am 2. Januar 1905.
[6] Seitenwechsel.
[7] Unterstrichen. Auf weitere einschlägige Fussnoten wird verzichtet.
[8] Seitenwechsel.
[9] In der Nacht vom 20. auf den 21.10.1907.
[10] In der Nacht vom 3. auf den 4.3.1908. Vgl. L.Vo., Nr. 11, 13.3.1908, S. 1 („Aufruf“).