Martina Gstöhl an ihre Schwester Balbina Gstöhl über einen Spitalaufenthalt, die Rückwanderung aus Amerika, die bevorstehende Elektrifizierung der österreichischen Eisenbahn, die Entlohnung und die Vergünstigungen der Eisenbahner, das zunehmende Aufkommen weiblicher Arbeitskräfte in den Büros, die Entlohnung der österreichischen Finanzwache, das Los der Tagelöhner, den Eierverkauf liechtensteinischer Bauern nach Österreich, die österreichischen Ausfuhrverbote, die Frankenwährung, die Preisunterschiede zwischen Oberösterreich, Tirol und Vorarlberg sowie den Sittenverfall der Jugend


Handschriftliches Originalschreiben der Martina Hartmann [-Gstöhl], Ludesch (Vorarlberg), an ihre Schwester Balbina (Marie Balbina Öhri [-Gstöhl]), Spencer (Nebraska) [1]

09.07.1921, Ludesch (Vorarlberg)

Liebe Schwester u. Famielie! [2]

Haben Dein Brief
erhalten, welches uns jedesmal freut,
von Euch etwas zu hören. Du schreibst,
dass [3] Du im Mai wieder ins Spital
müssest u. Dich einer Opration vielleicht
unterziehn. Wir wollen hoffen, dass
es heute schon vorbei ist u. hoffentlich [4]
auch gut gegangen. O wenn Ihr nur
hier wäret, dann könnte man Euch oft
bei der Arbeit etwas helfen. Rafft alles
zusammen u. kommt hieher nach Österreich,
Die Kinder können sich an hier auch gewöhnen,
man kann hier auch Auto fahren, oder
bald jetzt dann mit dem Elektrischen
überall hin. Es wird nämlich Anfang
im Tirol ein grosses Elektrowerk erbaut
für die Bahn. Wenn die Söhne [Edward, Frank, Joseph] nicht
(Mein schlechtes Augenlicht erkennt man
der Schreiberei an) [5]
gerne farmen, können sie zur Bahn
gehen, dann hättens grosse Löhnung
überall Zuschlag, die Familienunter-
stützung, können bereits umsonst
in der Welt herrum fahren, die
Eisenbahner machen es am besten
in Österreich. Die Bahn kostet am meisten,
früher kostete [6] die Bahn von hier nach
Feldkirch 20 Kreuzer u. jetzt 14 Kronen.
Wir brauchen die Bahn nicht viel, bei
uns ging sie gleich bankrott, aber man
hört immer wie mehr die Bahn kostet, wie
mehr Leute als fahren. Die Tochter [Beatrice] kann
sich hier auch ausbilden, den in Österreich
hats auch Lehrerinnen, weibliche Postangestellte,
auch in Büros, u. an verschiedenen Orten,
wo sie schöne Gehälter haben. In Bludenz beim
Gericht sind viele weibliche Angestellte.
Seht also, auch hier kann man sich eine [7]
schöne Stellung erwerben, man
muss auch nicht grad zum Bauer auf
Taglohn od. in die Fabrik gehen. Es
sind auch weibliche Ärztinnen hier,
u. wenn sie praktisch sind, von den
Frauen beliebter als der Arzt. Ich
sag ja nicht, denn jeder Stand hat seine
Beschwerden, aber soviel sage ich wenn
man Geld hat zum etwas anfangen, kann
man hier gute Geschäfte machen, ja
junge Leute brauchten kein Geld, was
haben nur die Finanzwache für Löhnung,
8 tausend Kronen im Monat, u. 20 tausend
verdienens noch als Helfeshelfer beim Schmuggel,
die Kleidung habens vom Staad, Ermässigung
bei der Bahnfahrt habens auch, u. dann wer
hat es schöner, u. angestellt werden
immer. Nur der Taglöhner ist hinten am
Wagen, der soll kein Lohn machen u. alles
theuer kaufen. So viel ich gehört habe
würden die meisten Lichtensteiner wieder
umsatteln, denn draussen sind doch viele
Bauern, bereits ein jeder hat eigenes Essen [8]
jetzt was wollen sie mit dem Übrigen
thun. Gegenwärtig dürfens mit Eier
nach Österreich, bekommen 10 Kronen für 1 Stk.
jetzt aber draussen will alles Franken
für das was sie kaufen müssen, u. hier
in Österreich könnens nichts kaufen als
Möbel, das andere dürfens nicht hinaus
nehmen, was fangt ein armer Bauer an
wo vielleicht sollte Eier verkaufen, damit er
sich ein Laib Brot kaufen kann, für den aber
muss Schweizergeld hinlegen. Bei unserm
Hausherr ist gegenwärtig der Leutnant
samt Famielie, wo er unter dem Kriege
gedient hat bei ihm, der sagt man lebe billig
hier, aber wie der Hausherr sagt, soll er
ein solcher Gehalt haben in Wien, er ist
nämlich Elektroinschienör, dass er täglich
auf 1000 Kronen zu stehen komme, dann
könnte man schon leben. Die Frau vom
Leutnant sagt zu mir, wir haben schon
einen Gehalt, dass wir uns alles leisten
können, u. das will gewiss viel sagen. [9]

Heute regiert halt das
Geld die Welt. Für Euch wäre es in
Österreich besser als gegenwärtig in
Amerika. Die jungen Leute wenn sie a
Schneid haben, können sie Geld machen hier.
Schaut daher, dass Ihr wegkommt drinnen,
u. kommet nach Österreich.

Hier waren letzte Zeit starke Gewitter
mit Hagel, u. hat die Frucht vielfach bereits
ganz ruiniert. Du schreibst, dass Ihr 56 Pfund
Mais um 22 Cent abgeben müsst, hier kostet
Kilo Maismehl 32,50 – 35 – 37 Kronen.
Kochmehl bekommt man gar keins, es ist
nur eine Mischung von Reis – Bohnen u.
Maismehl. Ich sage oft, wenn man nur
könnte viel Kartoffel, Mais u. ver-
schiedenes Korn pflanzen, ein eigenes
Haus, damit man könnte, Schweine, Hennen
u. Ziegen haben, dann wollte ich sehr
zufrieden sein. In Oberösterreich ist alles
billiger als wie hier, dort kauft man [10]
um 150 tausend Kronen
der grösste Bauernhof samt Vieh
u. Stalleinrichtung, samt verschiedenen
Maschienen. In Tirol schon ist Klei-
dung u. Güter u. so was nicht so theuer
wie bei uns. Von Vorarlberg sind
schon einige Famielien nach Oberösterreich,
sie machen es ganz gut, denn dort ist
alles noch billiger als in Tirol. Mir
scheint so der Zeitung an, kommt es
wieder zu einer Monarchie wie es ge-
wesen, nun minder kann es nicht
sein. Man würde es schon versorgen,
wegen dem Militär, aber so wie es jetzt
ist, kanns auch nicht bleiben. Der Krieg
hat auf der ganzen Welt furchbar Elend
angerichtet, u. doch wird immer noch Krieg
geführt. Und wie hier seit dem Kriege
die jungen Leute sind, schon die
Schulbuben, grob, verstohlen, religions-
los, mit einem Worte, ganz ausgeschämt. [11]
Sie haben gar keinen Charakter mehr
von Religion nicht zu reden.

Nun muss ich zum Schlusse kommen,
sonst könnt Euch das Brief lesen von
mir verleiden.

Möchte bald wieder etwas von
Euch hören, was Eure Kinder sagen über das
hieher kommen. Ich bin sehr neugierig zu
hören. Auch möchten wir gerne wissen
wie es Euch geht, gesundheitlich u. sonst.
Wie geht es Magdalena [Connot [-Öhri]] u. Famielie,
was macht der verheiratete Sohn.
Wie geht es dem Andreas [Öhri] u. Famielie
Tausend Grüsse an Alle wenn sie uns
nachfragen.

Freundliche Grüsse samt tausendfachem
Vergelt’s Gott für Alles Erhaltene, von
uns Allen, mit der Hoffnung es werde
Euch Alles in bester Gesundheit erreichen,
besonders aber von

Deiner Schwester

Lebet wohl auf baldiges Wiedersehn. [12]

Weisst Du mir kein Mittel
anzuwenden, unsere Tochter [Katharina]
ist so Herz u. Nerven schwach.

Bea Ohri
Spencer
Nebr. [Nebraska] 
Bea Ohri
Spencer [13]

„Andy“ Anderson,
Fairfax,
So. Dak. [South Dakota] [14]

______________

[1] LI LA PA 016/3/11/12.
[2] In lateinischer Schrift.
[3] Ursprüngliche Fassung: „daẞ“. Das Eszett wird im Folgenden zu „ss“ umgewandelt.
[4] Unterstrichen.
[5] Seitenwechsel.
[6] Durchstreichung.
[7] Seitenwechsel.
[8] Seitenwechsel.
[9] Seitenwechsel.
[10] Seitenwechsel.
[11] Seitenwechsel.
[12] Seitenwechsel.
[13] Dieser Absatz von einem anderen Schreiber später hinzugefügt.
[14] Von einem anderen Schreiber später hinzugefügt.