Rosina Biedermann [-Öhri] an die Brüder Andreas und Ulrich Öhri über die wirtschaftliche Lage in der Region, die aussergewöhnlich gute Ernte, Angel- und Freizeitausflüge im Land und über die angebliche Notzüchtigung eines achtjährigen Mädchens


Handschriftliches Originalschreiben von „Rosinili“ Biedermann, Ruggell, an die Gebrüder Andreas Öhri und Ulrich Öhri, Spencer (Nebraska) [1]

05.09.1892, Ruggell

Werthe Geschwister Öhry!

Antwortlich Eueres werthen Schreibens an
unsere Familie, ergreife ich nun die Feder
um Euch etwas von der trauten Heimath
mittheilen zu können, denn ebensoviel
wie es mich interessierte von Euerem
Befinden im fernen Amerika etwas
zu erfahren, so wird es umsomehr Euer
sehnlichster Wunsch sein auch wieder ein-
mal die in der, vor nicht langer Zeit [2]
verlassenen Heimath vorgekommenen
Neuigkeiten zu erfahren, und zudem
ist uns durch Briefwechsel eine schöne
Gelegenheit geboten, wenn wir uns
gegenseitig nicht nachlässig werden.

Vor Allem muss ich erwähnen, dass [3]
es uns recht herzlich freute, zu erfahren [4]
dass Ihr Alle nach den mühseligen Strappatzen
der Seereise Euch jetzt wieder recht gesund
und wohl befindet und ein behagliches Aus
kommen erwartet, was ich von ganzem
Herzen Euch allen wünsche.

Bei uns geht es in Allem zimlich günstig
denn wir sind alle recht gesund und wohl, wie
auch Euere Mutter [Katharina Öhri [-Öhri]] und die Geschwister [5] bloss
dass bei uns eine Arbeitlosigkeit und ein
unerklärlicher Geldmangel herrscht, der
zwar nicht eine Neuigkeit ist, aber doch
mit dem düstern Antlitz nie so herschaute.
Es geht hier alles flau, die Stickerei happert
immer noch, der Viehhandel hat eine schlechte
Aussicht indem die Klauenseuche im Kanton
St Gallen sehr Algemeinheit ist und auch in
Gisingen und Altenstadt zirka 40 Fälle
konstatirt sind, wir sind somit auf längere
Zeit von allem Verkehr abgesperrt. Ein
Geschäft kann natürlich nicht gut gehen, wenn
der Bauer nichts verkaufen kann. [6]
Was überhaupt die heurigen Witterungsver-
hältnisse anbelangt, so ist der heurige Sommer
wohl der beste seid 1865 und sind deshalb
alle Feldfrüchte und Heu in Hülle und
Fülle gerathen, wenn die Reben nicht in
den früheren Jahren verdorben wären,
gebe es heuer einen Wein I. Ranges!
Es ist auch Aussicht dass wir einen guten und
billigen Tirolerwein erhalten, denn dort giebt
es Wein nach Übermass und ist bereits vor-
gestern der erste Suser angelangt ein sehr
guter Tropfen.

Die Fischerei geht diesen Sommer sehr gut und
ich habe es in eigener Pacht ein schöner
Zwischenverdienst. Was ist für eine
Gelegenheit zum fischen in deiner Umgebung?

Was der Gesang anbelangt kann ich dir
mittheilen, dass der Näff [7] zufolge Verhältniss
gewillt ist als Schullehrer zu studiren.
Die Musik hielt einen Ausflug auf Schloss
Vaduz. [8]

Ich habe dem Fr Josef Öhry [Franz Josef Öhri] schon zweimal geschrieben
und keine Antwort erhalten, wenn es möglich
ist, so theilet demselben mit, dass ich von Ihm
denn daheim Antwort erwarte oder fraget
ihn worum er mir nicht mehr schreibe.
Das Schreiben das er an Simon [9] 100lb [Hundertpfund] geschrie-
ben habe ich zwar gelesen und erfahren
dass er sich wieder wohl befindet.

Der Sticker Ferdi wird auch gewillt
sein müssen [10] über den Ozean zu reisen
wenn er noch einer kriminellen Unter-
suchung und Strafe zu entgehen kommt.
Es geht aber die begründete Sage dass er
ein 8 Jahre altes Mädchen nothzüchtigt
hat und soll bereits dieser Tage dem
Gerichte bekannt werden. [11] Was doch
einem Verbrecher vor dem Falle
alles möglich ist beweist sein Lebens
wandel genau. Im Jahre 74 wurden
zweien seiner Beischläfer die Saum-
löhne gestohlen detto anno 76 in Zürich
wo er eingesteckt wurde.

Anno 1886 hat er durch falschen Eid zu Frickens Gunst den Öhri ins Zuchthaus
gebracht.

Das Mass wird voll sein. [12]

Biederm. Rosinili

______________

[1] LI LA PA 016/3/03/01.
[2] Die Gebrüder waren 1892 in die USA ausgewandert.
[3] Ursprüngliche Fassung: „daẞ“. Das Eszett wird im Folgenden zu „ss“ umgewandelt.
[4] Seitenwechsel.
[5] Die Geschwister von Andreas und Ulrich Öhri hiessen Kreszenz, Maria Anna und Pia. Die Schwester Magdalena Connot [-Öhri] war bereits 1890 in die USA ausgewandert.
[6] Seitenwechsel.
[7] Möglicherweise Adolf Näff.
[8] Seitenwechsel.
[9] Unsichere Lesung.
[10] Unterstrichen.
[11] In den Unterlagen des Liechtensteinischen Landesarchivs findet sich kein Hinweis auf eine Strafsache Ferdinand Ritter.
[12] Die letzten zwei Sätze am linken Seitenrand hinzugefügt.