Schreiben von Rechtsanwalt Wilhelm Künzle an Regierungschef Josef Hoop [1]
18.3.1931, St. Gallen
Sehr geehrter Herr!
Ihrem Wunsche gemäss habe ich den Entwurf eines Gesetzes über das Disziplinarverfahren gegen Mitglieder der Regierung aufgestellt. Ich übermittle denselben, wobei ich mir gestatte, folgende Überlegungen bekannt zu geben:
1.) Nach Art. 53 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof [2] soll ein besonderes Gesetz bestimmen, wieweit ersteres auf das Disziplinarverfahren gegen Mitglieder der Regierung und deren Beamte anzuwenden ist.
Soweit Art. 53 auch die von der Regierung gewählten Beamten der Disziplinar-Rechtspflege durch den Staatsgerichtshof unterwerfen will, ist die Bestimmung meines Erachtens verfassungswidrig. Art. 104 der Verfassung bestellt das Staatsgericht nur als Disziplinargerichtshof für die Mitglieder der Regierung, nicht aber für die sonstigen Staatsbeamten.
Art. 93 der Verfassung unterstellt die Beaufsichtigung aller von der Regierung gewählten Behörden und Beamten und die Ausübung der Disziplinargewalt über letztere der Regierung selbst. Nicht der Landtag und nicht der Staatsgerichtshof sind also in Disziplinarfragen der Beamten zuständig, sondern nur die Regierung. Verfügungen der Regierung in Disziplinarangelegenheiten unterliegen nach Art. 97 der Verfassung dem Weiterzug an die Verwaltungsbeschwerde-Instanz. Diese und nicht der Staatsgerichtshof wäre also die obere Instanz.
Es hat daher das Ausführungsgesetz, das auf Grund von Art. 53 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof zu erlassen ist, sich auf die Mitglieder der Regierung zu beschränken. Dem entspricht Art. 1 des Gesetzes-Entwurfes.
2.) Art. 45 der Verfassung überweist dem Landtag die Wahrung der Rechte und Interessen des Volkes im Verhältnis zur Regierung. Art 62 f & g der Verfassung geben dem Landtag das Recht zur "Antragstellung und Beschwerdeführung bezüglich der Staatsverwaltung überhaupt sowie einzelner Zweige derselben", sowie der Ministeranklage beim Staatsgerichtshof. Art. 63 der Verfassung räumt dem Landtag das Recht "der Vorstellung oder Beschwerde" beim Landesfürsten, und Art. 80 der Verfassung das Recht, die Enthebung beim Landesfürsten zu beantragen, ein.
Es ergibt sich aus diesen Bestimmungen, dass dem Landtag ein eigenes Recht auf Erlass von Verfügungen in Disziplinar-Angelegenheiten nicht zusteht. Er hat lediglich ein Beschwerde- resp. Antragsrecht.
Art. 1 des Gesetzes-Entwurfes trägt diesen Überlegungen Rechnung.
Sollte entgegen meiner Auffassung dem Landtag ein eigenes Disziplinarrecht über die Regierung zugestanden werden, so wäre in das neue Gesetz eine Bestimmung aufzunehmen, wonach gegen Disziplinarverfügungen des Landtages dem Betroffenen innert 14 Tagen das Rekursrecht an den Staatsgerichtshof zugestanden wird.
3.) Das Disziplinarverfahren ist, entgegen den Voraussetzungen bei der Ministeranklage, nicht auf Verletzung von Verfassung und Gesetz einzuschränken, sondern soll sich auf jedes "pflichtwidrige Verhalten" beziehen, also ohne Rücksicht darauf, aus welchen Rechtsnormen das pflichtgemässe Verhalten gefolgert wird. Es soll auch nicht nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit, sondern bei jeder, auch der gewöhnlichen Fahrlässigkeit, Platz greifen können.
Art. 1 ist entsprechend weit gefasst.
Für Einleitung des Disziplinarverfahrens habe ich nicht einen qualifizierten Mehrheitsbeschluss des Landtages, sondern das einfache Mehr vorgesehen. Da es sich um minderwichtige Angelegenheiten im Verhältnis zur Ministerklage handelt, lässt sich das durchaus rechtfertigen.
4.) Auch Stellvertreter, soweit sie auf Grund von Art. 79 der Verfassung funktionieren, unterliegen dem zu erlassenden Gesetz. Das ist wohl so selbstverständlich, dass es nicht besonders erwähnt werden muss.
5.) In Art. 2 habe ich ein Disziplinarverfahren, das auf dem Petitionswege beim Landtag angeregt, und bei ablehnender Stellungnahme des letzteren an den Staatsgerichthof weitergezogen werden kann, vorgesehen. Man kann sich natürlich fragen, ob staatspolitisch so weit gegangen werden will. Zu Gunsten der vorgeschlagenen Lösung spricht die Schaffung des Vertrauens in eine objektive Verwaltungstätigkeit der Regierung einerseits und in eine, dem politisch eingestellten Landtag übergeordnete richterliche und damit unabhängige Instanz.
6.) Art. 3 soll das Recht auf Selbstanklage beschuldigter Mitglieder der Regierung bringen.
7.) Die Verweisung auf die Art. 44 - 52 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof bringt die nähere Ordnung über die weiteren Voraussetzungen der Disziplinarklage und über das Verfahren. Die Bestimmung, dass diese Gesetzes-Artikel "sinngemäss" Anwendung finden sollen, gibt dem Staatsgerichtshof die notwendige Bewegungsfreiheit.
8.) Da nirgends vorgeschrieben ist, welche Disziplinarstrafen verhängt werden können, ist eine Bestimmung, wie sie in Art. 5 des Entwurfes vorgesehen ist, nötig. Über die Höhe der Maximalbusse, sowie darüber, ob Suspendierung oder Entsetzung vom Amte ausgesprochen werden soll, kann man natürlich geteilter Meinung sein.
Aus der Gleichstellung zwischen Fürst und Volk für Ausübung der Staatsgewalt kann gefolgert werden, dass nicht nur dem Fürsten nach Art. 80 der Verfassung, sondern auch dem Volk durch seine Organe das Recht zustehen soll, die Regierung des Amtes zu entheben.
Die in Art. 80 erwähnte Anrufung des Staatsgerichtshofes kann wohl ohne weiteres auf die Enthebung der Regierung vom Amte bezogen werden.
Der übrige Inhalt des Gesetzes-Entwurfes ergibt sich wohl von selbst.
Mit vorzüglicher Hochschätzung
gez. Dr. W. Künzle
Beilage [3]