Note der liechtensteinischen Regierung an das Eidgenössische Politische Departement in Bern [1]
3.5.1938
Der Vertreter des Eidgenössischen Politischen Departementes hat anlässlich der Besprechungen über die durch den Anschluss Österreichs an Deutschland für Liechtenstein geschaffene Lage eine wohlwollende neuerliche Prüfung jener Fragen in Aussicht gestellt, deren gegenwärtige Lösung gewisse Wünsche der liechtensteinischen Interessentenschaft offen gelassen hat. Da nach einer Mitteilung von Herrn Legationsrat Dr. [Peter Anton] Feldscher die Kantonregierungen von Zürich, St. Gallen, Graubünden und Thurgau in den nächsten Tagen zu einer Besprechung nach Bern einberufen werden, gestattet sich die fürstliche Regierung im Nachstehenden summarisch die Wünsche des liechtensteinischen Gewerbes und der liechtensteinischen Landwirtschaft zur geeigneten Prüfung zu unterbreiten, wobei sie sich vorbehalten darf, auf einzelne derselben im Verlaufe allfälliger Verhandlungen näher zurückzukommen.
A.) Anliegen des liechtensteinischen Gewerbes
1.) Verwendung des Armbrustzeichens für liechtensteinische Erzeugnisse
Im Jahre 1935 und 1936 hat die fürstliche Regierung beim Zentralsekretariat der Schweizer Woche den Wunsch des liechtensteinischen Gewerbes vertreten, seinen Erzeugnissen die Verwendung des Armbrustzeichens zu gestatten. Das diesbezügliche Gesuch wurde abgewiesen.
Die fürstliche Regierung gestattet sich unter Wiederholung der seinerzeit angeführten Gründe um Wiedererwägung dieses Beschlusses zu bitten, wodurch die wirtschaftliche Einheit zwischen der Schweiz und dem durch Zollvertrag ihr angeschlossenen Fürstentum sinnfälliger dokumentiert wird.
2.) Gleichstellung liechtensteinischer Lastwagenbesitzer mit schweizerischen Lastwagenbesitzern bei Ausführung von Transporten in der Schweiz
Liechtensteinische Lastwagenbesitzer sind in der Schweiz wegen Ausübung von Transporten wiederholt gebüsst worden. Andererseits setzt das Fürstentum Liechtenstein der Ausführung von Autotransporten in Liechtenstein durch schweizerische Lastwagenbesitzer nicht das geringste Hindernis entgegen. Der Wunsch der Vereinigung der liechtensteinischen Kraftwagenbesitzer geht auf völlige Gleichstellung der schweizerischen und liechtensteinischen Kraftwagen.
3.) Freie Arbeitsannahme liechtensteinischer Arbeiter, Lehrlinge und Gesellen in der Schweiz
Diese Frage ist zu wiederholten Malen Gegenstand von Besprechungen zwischen den zuständigen liechtensteinischen und schweizerischen Stellen gewesen. In der heutigen Zeit kommt ihr eine wesentlich vermehrte Bedeutung zu. Eine Gleichstellung liechtensteinischer Arbeiter, Lehrlinge und Gesellen mit jenen eines schweizerischen Kantons und die damit verbundene Vereinfachung der Formalitäten bei Einstellung eines liechtensteinischen Arbeitnehmers in der Schweiz würde alle Befürchtungen zerstreuen, die in den wiederholten jüngsten mündlichen Besprechungen zum Ausdrucke gebracht wurden.
4.) Gegenseitigkeit in der Ausübung von Gewerben
Wiederholt sind liechtensteinischen Gewerbetreibenden, die in der Schweiz Aufträge bekommen haben, in der Ausübung ihrer Tätigkeit von kommunalen und kantonalen Organen Hindernisse in den Weg gelegt worden. Es ist deshalb der Wunsch des liechtensteinschen Gewerbes, eine Vereinbarung, zwischen der Schweiz und Liechtenstein herbeizuführen, nach welcher schweizerische Gewerbetreibende in Liechtenstein und liechtensteinische Gewerbetreibende in der Schweiz ungehindert Aufträge ausführen dürfen.
5.) Handelsreisende
Die Tätigkeit der schweizerischen Handelsreisenden in Liechtenstein auf Grund der grünen und roten Karte ist unbeschränkt. Es wird liechtensteinischerseits keine Kontrolle geübt, ob z. B. die Nächtigung in Liechtenstein oder in der Schweiz erfolgt. Liechtensteinische Handelsreisende in der Schweiz, die Inhaber einer grünen oder roten Karte sind, erfahren aber öfters Schwierigkeiten, wenn in Ausübung dieser Tätigkeit Nächtigungen in der Schweiz und damit ein längerer Aufenthalt in Frage kommt.
6.) Gegenseitige Belieferung mit Waren
Schweizerische Unternehmer beliefern liechtensteinische Konsumenten direkt in einer dem Hausiergewerbe nahestehenden Form durch Besuche von Haus zu Haus, wobei die Waren vielfach im Auto mitgeführt werden (Brot, Fleisch, Lebensmittel anderer Art, Schuhe etz.).
Die Versuche liechtensteinischer Unternehmer, gleiche oder ähnliche Geschäfte in einem viel kleineren Ausmasse im schweizerischen Grenzgebiete auszuüben, erfahren grosse Schwierigkeiten im Verhalten der kommunalen und der kantonalen Organe. Infolge Bussen und anderer Verfügungen sind solche Geschäfte von Liechtensteinern im schweizerischen Grenzgebiete fast unmöglich gemacht.
B.) Anliegen der liechtensteinischen Landwirtschaft
Im Jahre 1931 wurde das von der fürstlichen Regierung gestellte Gesuch um Anerkennung der liechtensteinischen Braunviehzuchtgenossenschaften der liechtensteinischen Belegscheine und Ohrmarken abschlägig [2] beschieden. Seither haben sich die Verhältnisse nach der bestimmten Auffassung der fürstlichen Regierung soweit geändert, dass sie eine Wiedererwägung dieses Beschlusses zu erbitten sich gestattet.
Die liechtensteinische Viehzucht hat Jahr für Jahr Fortschritte gemacht. Die Zuchttiere sind in der Regel schweizerischer Abstammung. Die Expertisen bei Schauen werden von einem schweizerischen Experten geführt u.s.w. Die damals von den benachbarten Viehzuchtgenossenschaften geäusserten Bedenken dürften heute als dahingefallen gelten und die fürstliche Regierung gestattet sich, den Antrag zu stellen, die Frage der Gleichbehandlung der liechtensteinischen Viehzuchtgenossenschaften mit den schweizerischen neuerdings zu überprüfen.
C.) Ausübung freier Berufe
Nach wie vor üben schweizerische Ärzte, schweizerische Rechtsanwälte und Architekten ihren Beruf in Liechtenstein ohne irgendwelche behördliche Einschränkung aus. Nicht das Gleiche ist in der Schweiz der Fall, wo immer wieder die liechtensteinische Staatsangehörigkeit ein Ausschliessungsgrund von der Berufsausübung darstellt.
Die fürstliche Regierung gestattet sich deshalb, auch in dieser Frage gegenseitige Gleichstellung zu beantragen.
D.) Besuch von schweizerischen Schulen durch Liechtensteiner
Neben schweizerischen Internaten besuchten die liechtensteinischen Studenten bis jetzt meistens österreichische Mittel- und Hochschulen. Sie genossen dort in der Praxis völlige Gleichstellung mit den österreichischen Studenten, soweit dies Immatrikulations-, Inskriptions- und Prüfungsgebühren anbelangt. Nach den neuesten deutschen Verordnungen werden ausländischen Studenten in Zukunft scheinbar noch vermehrte Vergünstigungen eingeräumt. In Anbetracht der fortschreitenden Angleichung des liechtensteinischen Rechtes an das schweizerische und aus den bei den mündlichen Verhandlungen schon angezogenen Gründen würde es die fürstliche Regierung sehr begrüssen, wenn auch die schweizerischen kantonalen und staatlichen Schulen wie Kantonsschulen, Universitäten u.s.w. hinsichtlich der Gebühren die liechtensteinischen Studenten gleich behandeln würde, wie die schweizerischen.
Die fürstliche Regierung gibt der Hoffnung Ausdruck, dass die vorstehende Aufzählung der Wünsche der verschiedenen liechtensteinischen Berufsgruppen genügend Grundlage für eine grundsätzliche Aussprache mit den Vertretern der kantonalen Regierungen darzustellen vermag. Sie steht zur weiteren Abklärung der einzelnen Punkte in mündlicher und schriftlicher Form gerne zur Verfügung und bittet das Eidgenössische Politische Departement, ihr gütigst hiezu Gelegenheit geben zu wollen.
Unter nochmaligem höflichen Hinweis auf die Bedeutung dieser Fragen für das Fürstentum und dessen weitere Entwicklung bittet sie um wohlwollende Behandlung und dankt zum Voraus für jedwedes Entgegenkommen.
Die fürstliche Regierung benützt auch diesen Anlass, das Eidgenössische Politische Departement erneut ihrer ausgezeichneten Hochachtung zu versichern.