Ferdinand Marock an seinen Bruder Wilhelm Marock über den Unfall des Andreas Marock, das Benehmen der Reichsratsabgeordneten in Wien, den neuerlichen Dreyfus-Prozess in Frankreich, die magere Obsternte in Liechtenstein, den Einkauf eines Waggons Weintrauben in Südtirol, die eindrücklichen Viadukte der Arlberg- und der Südbahn, die Zubereitung von Popcorn, die Zusendung von Süsskartoffeln nach Liechtenstein bzw. von Lebkuchen nach Amerika


Handschriftliches Originalschreiben des Ferdinand Marock, Mauren, an seinen Bruder Wilhelm Marock, Hammond (Indiana) [1]  

07.01.1900, Mauren

Lieber Bruder!

Endlich drängt die Zeit, dass [2] auch
ich wider die Feder zur Hand
nehme u. Dir ein paar Zeilen
schreibe. Ich habe das letzte Schrei-
ben am 10. Aug. l. J. an Dich ger-
richtet u. absichtlich diese 5
Monatliche Pausse eintreten
lassen, indem ich meinen
Bruder Andreas [Marock], David Bühler
Zeit zu lassen um Dir Briefe
zu schreiben, welche Du natürlich
auch beantworten musstest,
mithin Dir das vile Antworten
schlisslich zum Eckel werden
könnte. [3]  

Letzte Woche hat David Bühler
in Nahmen Andreas ein grösseres
Schreiben an Dich gerichtet, ich
habe zwar den Inhalt nicht
selbst gelesen, trotzdem ich
bereits jeden Abend in ihrer
Gesellschaft bin, der Inhalt
wurde mir nur so proform
mündlich mitgetheilt. Ich nehme
also an, das Dir die wichtigsten
Neuigkeiten durch Bühler ge-
schrieben worden sind, u. erwähne
nur kurz den Unglücksfall
den Andreas am 26. Dez. in Folge
eines heftigen Hufschlag von
seinem Pferd ins Gesicht bekam
wobei ihm 6 Zähne samt der
obern Kinnlade (Bein) rückwärtz [4]
gegen den Halsschlund einschlug,
das Gaumen bein stark verletzte
u. beide Backen knochen brach;
kurz es wurde allgemein als
ein Wunder mit so vilen Blut-
verlurst angesehen, u. dürfte
villeicht unter 100 Fällen vil-
leicht nicht ein einziger ähn-
licher Fall vorkommen, der nicht
plötzlich mit dem Tod enden
würde. Also eine ernste Wahr-
nung für ihn u. uns allen,
wie unerwartet man aus diesem
irdischen Strudel, vor den ewigen
Richter stuhl Gottes gefordert
werden kann. Übergehen wir
von diesem Thema u. werfen
wir einen kurzen Blick [5]
auf das vergangene Jahr zurück,
ich wil aber hier nicht erörten
die Wetterzeichen welche
am politischen Horizon hie u.
dort sich zeigten, auch nicht das
das Bübische benehmen der
Reichstagabgeordneten in Wien,
selbst nicht das lächerliche Urtheil
über Dreifuss [Alfred Dreyfus] in Rennes, [6] wobei
sich die französische Justiz einen
Schandflecken ersten Ranges
in der Justizpflege stempelt,
diese u. noch vile ander Hum-
buge sind Pestbeulen, welche
sich im alten Jahrhundert
gebildet haben, u. im neuen
Jahrhundert ganz sicher zum
Ausbruch gelangen. [7]

Nein ich wil nur die Frucht-
barkeit von Jahr 1899 erwähnen,
welches im grossen u. ganzen
als ein gutes bezeichnet werden
kann, mit Ausnahme dess
Obstes. Obst hate es gar
keines; welches für mich doppelt
empfindlich war, Erstens kein
Trank im Keller u. zum
zweiten was noch wichtiger
war, nichts verdient mit dem
Obsthandel. Ich reisste daher
im Sept. nach Südtirol bis
unter Bozen [8] hinab u. kaufte
dort ein Wagon Trauben
welches als ein Ersatz für
den Most leistete. [9]
Aber der Gewin war begreiflich
klein, den alles muss gelernt
sein. Nächstes Jahr dürfte
es besser gehen wen man
mehre Waggon verschleisst.
Höchst interessant für mich
war die Fahrt dorthin
mit seinen Riesenhaften
Viaduktenbauten welche
man an der Arlbergbahn sehen
kan, sowi der Weltberühmten
Trisanabrücke welche von
einem Gebirgskam auf
den andern auf einer Schwindel-
haften Höche überspringt, nicht
minder Halsbrechisch erscheint
die Südbahn über den Brenner
1482 Meter über dem Meer. [10]  

Reden wir in kürze noch von
dem Popkorn. Das Popkorn
erreichte bei den meisten
nicht die richtige reife. Die
besten Resultate ereichte
mein Schwigervater Jakob
Marxer
Eschen. Meiner Frau [Wilhelmina Marock [-Marxer]]
wollen einfach nicht alle Kör-
ner auknallen, was wahrscheinlich
an der Ungenügenden reife
fehlt, sonst wäre es ein Delikat
Essen. Vom dem erwähnten
Süsskartoffell ist es mir schon sehr
gedient wenn Du mir einige
Exemplare zuschickt, in der
Voraussetzung, dass Du glaubst
das sie hier zur reife gelangen
u. die Fracht nicht zu hoch kommt. [11]  

Nebenbei muss ich Dir bemerken
das Du in der Sache Erkundigung
bei competen Stelle einholst;
Möglicherweise könnte Dir das
[12] pasiren; wie mir, vor 2 Jahren
wolte ich Deine Frau zum
Weihnachtsfest mit einer Biren-
zellten überraschen, da wurde
mir aber von Postbeamten
bemerkt das ich fragliches Präsent
zuerst nach Innsbruck an das
dortige Consulat gehen lassen
müsse, um die Legimination
einzuholen das keine Höllenmaschine
eingebackt sei; wo ich begreiflich
von der Sendung abstand.

Mit herzlich Grüssen von uns
allen an Euch alle, u. in Erwartung
einer baldigen Antwort.

Ferdi.

______________

[1] US PA Delph Donna. Brief in Kurrentschrift. Kuvert beiliegend.
[2] Ursprüngliche Fassung: „daẞ“. Das Eszett wird im Folgenden zu „ss“ umgewandelt.
[3] Seitenwechsel.
[4] Seitenwechsel.
[5] Seitenwechsel.
[6] Gemeint ist der zweite Militärprozess in Rennes (Frankreich) gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus wegen Landesverrats, welcher erneut mit einer Verurteilung endete. Am 19.9.1899 wurde Dreyfus schliesslich begnadigt.
[7] Seitenwechsel.
[8] In lateinischer Schrift. Wird im Folgenden kursiv gesetzt.
[9] Seitenwechsel.
[10] Seitenwechsel.
[11] Seitenwechsel.
[12] Durchstreichung.