Alois Rheinberger an Emma Rheinberger über deren Rückkehr aus Arosa nach Vaduz, die gute Ernte des letzten Jahres in Nauvoo, den Schiessunfall des Enkels Herold Rheinberger mit anschliessender Amputation eines Fusses, die wechselhafte Witterung im März und April 1907, den Bau der katholischen Spalding Academy in Nauvoo mit ausführlicher Beschreibung der Gebäude, den Plan für den Bau eines Dammes und eines Elektrizitätswerkes am Mississippi sowie das Befinden einiger Familienmitglieder in Amerika


Handschriftliches Originalschreiben des Alois Rheinberger, Nauvoo (Illinois), an Emma Rheinberger, Vaduz [1]

30.04.1907, Nauvoo (Illinois)

Fräulein Emma Rhbrgr. [2]

Lieb Emma [3]!

Jetzt habe ich 3 Karten von Ihnen empfangen.
Die Erste wurde die Letzte und erreichte mich am
21t. Aprill [4] und beseitigte meinen Zweifel über
den Empfang der Photog. [5]

Meine liebe Emma, gerade weil ich Sie
recht lieb habe, wollte ich Ihnen keine Veran-
lassung [6] zum Schreiben geben, den, wenn ich
mich in Ihre Lage denke, und sollte Briefe
schreiben –  ich würde zu mir sagen: das geht nicht.
Wie freue ich mich zu denken, dass Sie daheim
sein werden, wenn diese Zeilen Sie erreichen!
Ich möchte dorten sein, und Sie persönlich
begrüssen. Gott segne Ihre Rückkehr.

In meinem letzten Schreiben, bemerkte
ich Ihnen: ich würde Ihnen manches mit-
zutheilen haben, und damit will ich beginnen. [7]

Die Erndte dess letzten Jahres war befriedigend
in Menge und Güte, ganz gleich, ob bespritzt
oder nicht. Auch alles Andere gieng bei mir
gut, so, dass ich dachte: es sei zu gut, es werde
sich wohl für mich irgendwo ein Kreuz finden.
Meine Erwartung erfüllte sich auch.
Der September [8] brachte wiedrige Geschäftsberichte
Klagen über verzögerte, oder nicht erfolgte
Ablieferung, Schreibereien mit den Eisenbahn
Beamten, und das dauerte bis Deccember [9].
Aber es waren doch nur Kreuzchen, die kamen
und giengen. Aber ein wahrhaftes, für
das ganze Leben eines jungen Menschen
daurendes Kreuz, erschien am 15t Deccember [10]
Abends um 4 ½ Uhr. Der Joseph [11] und der
Herold [12], dem Hans [Johann Rheinberger] seine Buben, giengen
an diesem Tage auf die Jagt. Kamen Abends
heim, und einige Schritte vor dem Haus, wollte
Herold [13] sein Gewehr von der Schulter nehmen,
es entschlüpfte seiner kalten Hand, fiel
rückwärts und entlud sich in seine rechte
Ferse, und zerriss den Fuss.

Sein Bruder trug ihn in’s Haus. [14]
Sein erstes war, den Bruder zu
entschuldigen. Joseph [15] ist nicht schuld, ich
habe mich selbst geschossen, und dan jammerte
er um die Mutter. Man theilte es mir
am Abend nicht mit, man wollte mir die
Nacht nicht verderben. Am anderen Morgen
auf dem Weg von der Kirche nach Haus, fragte
mich ein Mann: was macht der Bub?
Was für ein Bub? fragte ich. Ach! weisst du
nichts? Dem Hans Einer soll sich geschossen
haben. Ich glaubte an einen Irrthum, gieng
aber nicht in mein Haus, sondern in das andere
und fand die weinende Frau. –

Ich gieng in das Zimmer dess Verwundeten.
Er empfieng mich mit lächelndem Mund
der Bruder an seinem Bett. Er ertrug
den Schmerz auffallend ruhig. Am Sontag
Abend war der Fuss abgenomen. Die Heilung
erfolgte schnell, anscheinend, brach aber wieder
auf, so dass eine nochmalige Öffnung nöthig
wurde, um zurückgebliebene Knochentheilchen
zu entfernen. Jetzt ist er geheilt und gesund. [16]
aber sein Fuss ist um 6 Zoll zu kurz.
Nächste Woche wird ein künstlicher Fuss
für ihn kommen. Er kostet gerade 100 Dollars [17].
Er wird darauf laufen können ohne auffallend
zu sein. Aber ein solcher Fuss nützt sich von
Zeit zu Zeit ab, und es könte in einem langen
Leben vorkommen, dass man kein Fuss und kein
Geld hätte. Sie möchten fragen: warum lässt
man Buben so mit Gewehren gechen? aber es
ist Brauch. Ich habe kein Wort dess Tadels weder
für die Frau, noch die Buben. Geschechen ist
geschechen, und ist es gefehlt, muss man das
möglichst Beste draus zu machen suchen.

Seiner Zeit theilte ich mit, wie gut sich unser
Winter angelassen, aber der Tag ist vor Abend
nicht zu loben. Merz vom 1t bis 15t kalt und
Schnee, vom 15t bis Ende warm und immer
wärmer bis zu 90 Grade [18] nach Fahrenheit [19]. Alles
grünte. Die Weinstöcke trieben so weit an,
dass viele Augen roth hervor schienen. Pfirsiche [20]
Kürschen und Birnen Bäume kamen in Blüte.
Vom 3t Aprill [21] an kalt und kälter,
bis zum 26t mit etwa 4 Ausnahmen. [22]
jeden Morgen Eis. Thermometer [23] stand
beständig zwischen 30 und 20.
und solches Wetter herschte im grösseren
Theil der Ver. Staaten [24].

Wir erwarten daher nicht viel von der
nächsten Erndte.

Unsere Ortschaft, bis daher mehr Wohnungs
als Geschäftsplatz, erhält eine grosse
Veränderung. Es werden von einer Compagnie [25]
im Auftrage unseres Klosters grosse,
schöne Backstein-Gebäude errichtet, alles
in Einer Linie über den Hügelkam hin,
so dass es für die vorbei reisenden Bots [26] und
Bahn Passagire [27] ein bemerkens werthes
Ansechen geben wird. Der Vollendung
entgegen gehen bis jetzt: ein grosses Schulhaus
genant: Spaldings Academy [28] nach unserem
jetzigen Bischof [John Lancaster Spalding] [29]. Die Front [30] ist 130 fuss von
Ost [31] nach West [32]. mit 3 Stockwerken und Basement [33] [34].
Das Basement [35] enthält ein grosser Spielraum
für Kinder, wasch und bade Zimmer.
Der erste Stock enthält: Sprechzimmer, Empfangszimmer
Office [36], ein Saal von 28 bis 60 fuss für [37]
Versammlungen und einen Corridor [38] 10 bei 120 fuss.
Der 2t Stock enthält 4 Klassen Zimmer
30-32 fuss und grosser Gang.
Der 3t Stock enthält 2 Schlafräume und
Capelle [39] 28-56 fuss nebst Corridor [40].
Dan komt ein grosser Anbau im Anschluss
von Nord [41] nach Süd [42], und enthält auf dem ersten
Boden: Nähzimmer, Studierzimmer, Musickzimer  
Speisesaal, Ankleidezimmer für die Schwestern
und ein Schlafraum für Knaben 40-44.
Daran schliesst sich ein weiterer Anbau südwärts
und enthält im Basement [43] Küche, Aufbe-
wahrungs Raum, Spiel und Waschzimmer.
Der erste Stock enthält: Zimmer für die
Schwestern und Schlafräume.
Der 2t Stock Schlafsaal 24-40 in Verbindung
mit Ankleide und Bathzimer.

Vorbereitungen geschehen für den Bau einer
Academy [44] für Mädchen 170 fuss von North [45] nach
Süd [46] bei 112 von Ost [47] nach West [48]. 3 Stock und
Basement [49], diess enthält 2 Unterhaltungsräume
Aufbewahrungsraum und Ankleide Zimmer. [50]
Der erste Stock enthält 20 Musickzimmer
Empfangszimmer, Sprechzimmer, Office [51]
Studierzimmer und 234 fuss Corridors [52].
Der 2t Stock enthält: 18 private [53] Zimmer
für Schülerinnen, die eigene Räume wünschen.
Zimmer für Gäste, lese und näh Zimmer
Ankleidezimmer, Räume für Aufbewahrung
von Linnen und Wäsche, und einem Saal [54]
für wissenschaftliche Erörterungen.
Der 3t Stock 4 grosse Schlafräume
Apotheke, Bad und ankleide Zimmer, und
Schlafräume für Kinder.
Dan folgt im Plan eine eigene Kirche,
bisher benutzten sie unsere Pfarrkirche.
Ein grosses Gebäude mit 150 fuss hochem
Kamin zur Erzeugung von Licht und
Wärme, und Röhrenleitungen nach allen
Gebäuden sind eben in der Arbeit, und
ein Canal [55] zur Ableitung aller Unreinigkeiten
bis in den Fluss ist vollendet.
Alle Hände und Fuhrwerke von hier
sind angestellt, und wir alte Männer könen  
um 2 ¼ Dollar [56] pr Tag keinen zur Hilfe bekommen. [57]

Viele fremde Arbeiter, auch eine Schaar
Italiener [58] sind hier. Die Löhne sind 2 ¼
bis 2 ½ Dollar [59] für Handarbeiter, und für
Handwerker 4-6 Thaler pr Tag mit 8 Stunden
Arbeit. Die hoch oben am Kamin
arbeiteten, bekamen $ 1.- pr. Stunde.
Nichts wird gespart, und alles auf’s
Schönste und mit allen neuen Einrichtungen
hergestellt. Um diese Anlagen
rentabel [60] zu machen, werden Verkehrswege
/. Trolli Bahn [61] ./ von hier nach Fort-Madison [62]
nach Carthago [63] und nach Hamilton [64]
hergestellt, wo es Anschluss an andere Bahnen
gibt. Dan besteht auch noch ein 10
Millionen-Plan [65], der zwar vorder hand
noch nicht zur Ausführung komt, obgleich
50‘000 Thaler für Vermessungen ausgegeben
sind, der auch in geschäftlicher Beziehung
die ganze Gegend bedeutend heben würde.
Es soll oberhalb Keokuk [66], 12 Meilen unter
uns ein Damm quer durch den Missisippi [67]
gebaut werden, um den Fluss 30 fuss
höcher zu stauen zum Zweck der Gewinnung [68]
elecktrischer [69] Kraft zur Anlage
von Fabricken zwischen Keokuk [70] und
Burlington [71]. Diese Stadt liegt 30
Meilen höcher als wir. Bei uns
würde sich der Fluss weit ausbreiten
und mehr das Ansechen eines Sees
haben. Die Milionen [72] sind kein Hinderniss
wen ein Unternehmen nur bezalt.
Die Unternehmer rechnen die Betriebskraft
für 1 Pferde Kraft für 1 Jahr zu $ 25. –
liefern zu können, während sich Dampfkraft
auf 50 Thaler pr. Jahr für eine Pferdekraft
stellt.

Mit der Frau Rhbrgr. [73] [74] im Löwen
habe ich aufrichtiges Bedauern. Ich kenne
zu wohl den Schmerz, der die [75] Seele
am Sterbebett eines Kindes durchwühlt. [76]

Jetzt werden Sie Einmal mit mir
zufrieden sein. Herzlichen Gruss Ihren
Geschwistern und Ihnen meine besten [77]
Wünsche, könte ich denselben nur Kraft
geben. Der gute Gott möge ihre
Gesundheit so stärken, das Sie niemals
mehr in den Schnee hinauf gehen müssen.

A. Rheinberger [78].

Bemerken will ich noch, dass die Meinigen
gesund und in guten Verhältnissen
sind. Die Maria [79] wird mich diesen
Sommer besuchen, vielleicht das letzte mal
den ich zähle 80 Jahre und sie ist sehr
weit weg. Der Franz [Rheinberger] schrieb mir im
Herbst, er hätte bis dahin in diesem Jahr
schon über Eine Million [80] werth Waaren
für sein Haus verkauft. Er ist sehr gut
gestellt. Die Anna [81] komt von Zeit zu
Zeit für 1 oder 2 Tage. Der Joseph [82],
arbeitet bei der Compagnie [83], die die
Bahnlinien ausmisst, und erhält $ 35
monatlich und Kost. Der Herold [84] wartet
auf seinen Fuss, um wieder thätig zu sein.
Die Helda [85] macht nächsten Sontag 5t May [86] die erste
Comunion [87].

______________

[1] LI LA AFRh Ha 17/07. Brief in Kurrentschrift.
[2] In lateinischer Schrift.
[3] In lateinischer Schrift.
[4] In lateinischer Schrift.
[5] In lateinischer Schrift.
[6] Ursprüngliche Fassung: „Veranlaẞung“. Das Eszett wird im Folgenden zu „ss“ umgewandelt. 
[7] Seitenwechsel.
[8] In lateinischer Schrift.
[9] In lateinischer Schrift.
[10] In lateinischer Schrift.
[11] In lateinischer Schrift.
[12] In lateinischer Schrift.
[13] In lateinischer Schrift.
[14] Seitenwechsel.
[15] In lateinischer Schrift.
[16] Seitenwechsel.
[17] In lateinischer Schrift.
[18] In lateinischer Schrift.
[19] In lateinischer Schrift.
[20] In lateinischer Schrift.
[21] In lateinischer Schrift.
[22] Seitenwechsel.
[23] Seitenwechsel.
[24] In lateinischer Schrift.
[25] In lateinischer Schrift.
[26] In lateinischer Schrift.
[27] In lateinischer Schrift.
[28] In lateinischer Schrift.
[29] In lateinischer Schrift.
[30] In lateinischer Schrift.
[31] In lateinischer Schrift.
[32] In lateinischer Schrift.
[33] In lateinischer Schrift.
[34] Basement: Keller.
[35] In lateinischer Schrift.
[36] In lateinischer Schrift.
[37] Seitenwechsel.
[38] In lateinischer Schrift.
[39] In lateinischer Schrift.
[40] In lateinischer Schrift.
[41] In lateinischer Schrift.
[42] In lateinischer Schrift.
[43] In lateinischer Schrift.
[44] In lateinischer Schrift.  
[45] In lateinischer Schrift.
[46] In lateinischer Schrift.
[47] In lateinischer Schrift.
[48] In lateinischer Schrift.
[49] In lateinischer Schrift.
[50] Seitenwechsel.
[51] In lateinischer Schrift.
[52] In lateinischer Schrift.
[53] In lateinischer Schrift.
[54] In lateinischer Schrift.
[55] In lateinischer Schrift.
[56] In lateinischer Schrift.
[57] Seitenwechsel.
[58] In lateinischer Schrift.
[59] In lateinischer Schrift.
[60] In lateinischer Schrift.
[61] In lateinischer Schrift.
[62] In lateinischer Schrift.
[63] In lateinischer Schrift.
[64] In lateinischer Schrift.
[65] In lateinischer Schrift.
[66] In lateinischer Schrift.
[67] In lateinischer Schrift.
[68] Seitenwechsel.
[69] In lateinischer Schrift.
[70] In lateinischer Schrift.
[71] In lateinischer Schrift.
[72] In lateinischer Schrift.
[73] In lateinischer Schrift.
[74] Wohl Laura Rheinberger [-Wolfinger].
[75] Durchstreichung.
[76] Am 24.3.1907 starb Crescentia Elisabeth Rheinberger.
[77] Seitenwechsel.
[78] In lateinischer Schrift.
[79] In lateinischer Schrift.
[80] In lateinischer Schrift.
[81] In lateinischer Schrift.
[82] In lateinischer Schrift.
[83] In lateinischer Schrift.
[84] In lateinischer Schrift.
[85] In lateinischer Schrift.
[86] In lateinischer Schrift.
[87] In lateinischer Schrift.