Martina Gstöhl an ihre Schwester Balbina Gstöhl über die Operation einer Geschwulst, den Dank für das Hilfspaket aus Amerika, Schilderung der Preisentwicklung für Lebensmittel und Gebrauchsgüter, die Güteraufkäufe durch reiche Schweizer, die Not der Familie sowie die Zusendung alter Schuhe und Kleider


Handschriftliches Originalschreiben der Martina Hartmann [-Gstöhl], Ludesch (Vorarlberg), an ihre Schwester Balbina (Marie Balbina Öhri [-Gstöhl]), Spencer (Nebraska) [1]

02.05.1921, Ludesch (Vorarlberg)

Liebe Schwester u. Famielie! [2]

Habe Dein Schreiben
erhalten, u. erfahren, dass [3] Du Dich einer
Operation unterziehen musstest. Du
hast mir schon im letzten Briefe mit-
getheilt, dass Du ein geschwollenes Gesicht
habest, u. dass die Geschwulst ganz hart
sei. Ich erzählte es einer jungen Frau,
welche sagte, ihre Schwester habe es eben
so gehabt. Sie habe sich auch oprieren
lassen u. nach der ersten Opration
sei es wieder gewesen wie vorher, aber
die Dr. haben es ihr gesagt, dass es so komme,
aber sagten selbe nach der zweiten Opration
werde es schon wieder recht werden, denn
ganz so wie Du geschrieben sei es ihr er-
gangen. Sie hatte auch so eine Geschwulst [4]
ganz hart, das eine Auge sah man nicht
mehr, u. den Mund habe es ihr ganz
auf die Seite gezogen. Nach der zweiten
Opration war alles ganz gut, man sah
nichts mehr, als 2 kleine Narben. Die
Dr. sagten, das komme von Zahnschmerzen
od. besser von einstigen Eiterzähnen, welche
man unbeachtet liess. Sei daher nicht gar
so im Kummer, die Dr. verstehen es doch,
wie diese hier, weil sie sagen, dass es
nach der zweiten Opration wieder recht
werde. Wir wollen auf Gott vertrauen
u. wollen für Dich u. für Euch Alle beten.
Ich habe schon geschrieben sobald wir das
Paket erhalten, vielleicht habt Ihr den Brief
nicht erhalten, aber Schreiben war keins
gekommen seid im Dezember bis gestern.
Wir danken Euch viel tausend mal für das
erhaltene Gute, aber jetzt musst Du das
Senden unterlassen u. für Deine Famielie [5]
sorgen, damit nicht selbe wegen uns
verkürzt würde. Ich sage nicht wenn Du
etwas ganz altes hast, welches Du so wie
so, doch wegwerfen würdest, sind wir sehr
froh darum, denn wir können hier alles
brauchen, denn mir kommt vor bei uns
wird es alle Tage schlimmer, denn es kommt
jeden Tag alles in die Höhe z. B. Milch kostet
jetzt 9,40 Kr. [Kronen] per Lt. Jetzt sind aber die Bauern
schon wieder zusammen gestanden u. wollen
per Liter 15 Kr. obs durchgeht weis ich noch nicht.
Natürlich nach dem Milchpreis auch der
Butterpreis, sie berechnen 30 Lt. Milch
zu 1 Kilo Butter. Kartoffel kostet das Kilo
7 Kr. wir haben auch 110 Kilo gekauft 52 Kilo
von England 60 Kilo von hier, wir haben
nämlich heuer etwas Boden für Kartoffel
u. Mais. Kleider sind auch so theuer, jeder
Werktag Rok kommt auf 2000 sage zwei-
tausend Kronen. Schuhe 3-4000 Kr.
Kleider ist man einfach keine mehr im
Stande zu kaufen od. Wäsche auch nicht [6]
Wenn Ihr vielleicht alte verworfene
Schuhe habt, hier wird jetzt alles zu-
sammen geflikt, hier kann man alles
brauchen, sendet selbe nur, aber nur
was Ihr nicht mehr braucht. O wenn
Ihr hier wäret, Ihr könntet mir Eurem
guten Gelde, eine ganze Gemeinde zu
sammen kaufen, aber um Kronen bekommt
man nichts zu kaufen am Haus u. Boden.
Aber mit Franken od. Dollar könnte man
schon kaufen. Es kommen viele Schweizer
hieher u. kaufen die schönsten Güter zu-
sammen, um einige Franken. Unser
Hausherr war nach dem Kriege ein
armer Schlucker mit Schulden bis über die
Ohren jetzt kann er aber alles leisten, hat
ein Stall voll Vieh, kauft Wagen wo bereits
20‘000 Kr. kosten, u. der Arbeiter muss
zufrieden sein, wenn er nur noch kann
Kartoffel kaufen zum essen. Bin neu-
gierig wie lange es noch so fort geht. [7]  
Kann Dir auch berichten, dass ich der
Mali [Amalia Öhri [-Heeb]] nicht um ein Paket geschrieben,
od. überhaupt um etwas gebeten habe.
Wir sind schon froh um alles u. jedes
was wir bekommen, aber es muss ja
nicht so gut sein, wie das letzte, wir
können schon minders auch noch brauchen,
denn das waren ja lauter Sonntagskleider.
Und die Schuhe, das waren andere als wie
man sie hier bekommt, das meinen die Schuster
aber selber, dass man hier keine solche Schuhe
bekomme. Mein Mann [Johann Josef Hartmann] ist sehr froh darum,
er hatte keine Sonntagschuhe mehr. In diesen
Schuhen sei so gut gehen, sagt mein Mann.
Die Schuhe die man hier bekommt, ist mir
scheint alles in ganz Österreich alles nur
Papier, u. diesem Schreibpapier an, alles
nur noch schlechtes Papier.

Verzeihe meine schlechte Schrift, den fürs erste
schlechtes Papier, 2tens, sobald ich 5 Minuten
hinsitzen, so schlafe ich u. derat dass ich den
Schlaf fast nicht überwinden kann. [8]
Wann ich dann zu Bette gehe, schlafe ich 2-3 Std.
ganz gut, nachher kommen die Nervenschmerzen
u. dann ist der Schlaf für die ganze Nacht dahin.
Der Dr., welcher hier war, er ist jetzt gestorben,
der sagte immer: Für die Nerven giebt schon
Mittel, aber blos für reiche Leute zu ermitteln,
so theuer sind selbe. Man wird nicht umsonst
schon früher gsagt haben, das Alter bringt
allerlei Gstalten, nun in Gottes Namen, wir
sind jetzt halt nicht mehr jung, u. werden bald
unsern Eltern (selig) nach gehn.

Sende nur nicht mehr solche Kleider u. Wäsche
die Ihr selber noch brauchen könnt, nur solches,
welches Ihr doch nicht mehr traget, denn wir sind
um das ja noch so froh.

Schliesse nun mein Schreiben [9] in der
Hoffnung, Euch bald Alle wieder gesund
zu wissen, u. mit vielem Vergelt’s Gott u.
mit herzlichen Grüssen von uns Allen besonders
von Deiner Schwester Martina.

Lebet wohl. Aufs Wiedersehn.

______________

[1] LI LA PA 016/3/11/11.
[2] In lateinischer Schrift.
[3] Ursprüngliche Fassung: „daẞ“. Das Eszett wird im Folgenden zu „ss“ umgewandelt.
[4] Seitenwechsel.
[5] Seitenwechsel.
[6] Seitenwechsel.
[7] Seitenwechsel.
[8] Seitenwechsel.
[9] Durchstreichung.