Das St. Galler Tagblatt berichtet über den Währungszerfall in Liechtenstein und spricht sich für ein wirtschaftliches Entgegenkommen der Schweiz aus


Bericht im St. Galler Tagblatt, nicht gez. [1]

 5.2.1920

Die wirtschaftliche Lage in Liechtenstein.

(Korr. aus dem Oberland). Im Fürstentum Liechtenstein stocken Handel und Verkehr, im Kleingewerbe wenigstens, beinahe völlig. Die Mehrzahl der Wirtschaften sind geschlossen, und wo sie noch offen stehen, beschränkt man sich auf den Verkehr in Schweizergeld, so weit wie nur möglich. Die gleiche Tendenz herrscht auch vor in Läden, bei Handwerkern, überhaupt bei nahezu allen Geschäftsleuten. Die Landwirte wollen ihre Produkte auch nicht gegen Kronennoten verkaufen und die Tagwerker auch nicht um solche dienen. Selbst die Fabriken sogar fanden Veranlassung, wenigstens einen Teil der Entlöhnung an Angestellte und Arbeiter in Franken auszurichten. Das eigene Geld, die Kronennoten, haben alle Zugkraft verloren, und die Gold- und Silbermünzen österreichischer Währung sind gleichsam in die Unterwelt versunken. An Stelle der Scheidemünzen bei uns sind dort Miniaturnötlein in Umlauf gesetzt worden, den Briefmarken ähnlich; der Notenkurs hat einen Tiefstand erreicht, der hart an Wertlosigkeit grenzt. Allein nicht nur in den Verkehrsverhältnissen, sogar im Besitz ist eine völlige Umwälzung in die Erscheinung getreten. In den 80er und 90er Jahren und bis kurz vor dem Kriege galten allgemein die Fixbesoldeten und die Herren, bezw. die Inhaber von Werttiteln, als die vom Glück Bevorzugten, die Bauern aber, die Bearbeiter des Bodens, als die Geplagten und Rückständigen. Im Laufe der Kriegszeit hat sich im Liechtenstein, teilweise auch im Vorarlberg, ein ungeahnter Wechsel vollzogen. Die Bauern konnten alle ihre entbehrlichen Produkte zu horrenden Preisen absetzen, und zahlreiche Leute verdienten mit dem Schmuggel Geld wie Heu. Die Mehrzahl der Schuldenbäuerlein konnten ihre Hypotheken- und Obligationsschulden ablösen zur Zeit, da auch die Kronennoten noch einen beachtenswerten Kursstand hatten; überhaupt Schuldpflichten in Kronen konnten sie auch mit Kronen tilgen, wogegen die Herren oder die Banken die zurückerhaltenden Noten aufstapeln müssen, wie es heisst, ganze Koffern voll. Sogar manche Bürger diesseits des Rheins haben solche Tücke des Schicksals zu kosten bekommen. An Stelle einer vermeintlich bessern Rendite nebst Steuerfreiheit ist Verlust getreten. Es ist nicht verwunderlich, wenn die einsichtigsten Liechtensteiner den wirtschaftlichen Anschluss an die Schweiz anstreben, und nach unserer Ansicht dürften unser Volk und unser Staat unter sichernden Bedingungen, die unsere Staatslenker wohl würden herausdividieren können, den werten Nachbarn insoweit gerne die Hand reichen. Wir können uns sehr wohl der Zeit erinnern, da zwischen uns und Liechtenstein, wenigstens in landwirtschaftlichen Produkten aller Art, freier Verkehr herrschte, da die Liechtensteiner Bauern noch mit ganzen Herden Gross- und Kleinvieh unsere Jahrmärkte besuchten. Das waren in dieser Beziehung wirklich glücklichere Zeiten, als die unsern sind. Wo und wann es nur möglich ist, sollte man chinesische Mauern schleifen!

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[1] St. Galler Tagblatt 5.2.1920 (LI LA SgZs 1920)