Dr. Walter Petzet schreibt in der „Allgemeine Zeitung“, München, Nr.75 vom 16.3.1899 zum 60. Geburtstag Joseph Rheinbergers.


„Allgemeine Zeitung“, München, 16.3.1899

Joseph Rheinberger.

Am 17. März feiert Joseph v. Rheinberger seinen 60. Geburtstag. Wenn auch der aller Reklame abholde Meister ihn sicher in aller Stille zu feiern wünscht, glaube ich doch nur eine Dankespflicht als Musiker und Schüler zu erfüllen, wenn ich die zahlreichen Verehrer des grössten lebenden Kontrapunktisten auf diesen Festtag aufmerksam mache. Gehört doch Rheinberger der Musikgeschichte an und hat er doch als Komponist, wie als Lehrer einen grossen Einfluss auf die letzte Musikergeneration geübt. Wir Münchener haben besonderen Grund, auf Rheinberger stolz zu sein, denn schon seit seiner frühen Jugend ist er einer der Unseren, um den uns viele Musikstädte beneiden.

Sein Lebensgang war der denkbar einfachste. Geboren am 17. März 1839 in Vaduz, der Hauptstadt des Fürstenthums Liechtenstein, zeigte er schon als Knabe überraschende Anlagen zur Musik. Schon mit acht Jahren bekleidete er den Posten eines Organisten in seiner Vaterstadt, und mit zwölf Jahren bezog er das Münchener Konservatorium, um bei Leonhard Klavier, bei Herzog Orgel und bei Maier Kontrapunkt zu studiren. Während die letztgenannten Fächer

[1 Seite Urkunde: Verleihung der Ehrendoktorwürde]

stets seine Vorliebe blieben, wurde er doch 1859 zunächst an Leonards Stelle zum Klavierlehrer ernannt. Später übernahm er aber die Orgel- und Kontrapunktklassen, denen er heute noch vorsteht. Er hat somit sein ganzes Leben der Schule geweiht, welche aus einem kgl. Konservatorium unter Bülow eine kgl. Musikschule wurde, bis sie 1892 die Bezeichnung „Akademie der Tonkunst“ erhielt.

Nur kurze Zeit war er ausserdem am Hoftheater thätig, dagegen war er viele Jahre hindurch Dirigent der kgl. Vokalkapelle, welche nicht nur in der Allerheiligen-Hofkirche, sondern auch im Odeonssaale unter seiner Leitung eine Reihe der herrlichsten Genüsse darbot.

Leider gab er das Amt eines Hofkapellmeisters schon vor einigen Jahren einer jüngeren Kraft ab, um sich einzig dem Lehrberufe zu widmen, zu dem hervorragende Befähigung und Neigung ihn prädestiniren. Zum Professortitel gesellte sich noch der eines kgl. Inspektors der Klavier-, Orgel- und Theorieklassen, und Schüler aus nah und fern strömten herbei, da durch seinen Namen die Musikschule ihren bedeutendsten Aufschwung erhielt. Auch an sonstigen Ehrungen hat es ihm nicht gefehlt. Er ist Mitglied unzähliger Vereine, und von den vielen Orden, welche seine Brust schmücken, ist das Ritterkreuz des Verdienstordens der Bayerischen Krone, mit dem der persönliche Adel verbunden ist, der höchste.

Reisen haben ihn nie gelockt. Nur selten verliess er München, um eines seiner grossen Werke anderwärts zu dirigiren, aber im Sommer zieht es ihn alljährlich seit über einem Vierteljahrhundert nach Bad Kreuth, wo er neue Stärkung sucht und findet. Sonst „verthut er die schönste Zeit am Schreibtisch und in der Schulstube; es muss ja auch solche Käuze geben“ - schrieb er mir selbst letztes Jahr.

Sein ganzes Wirken als Komponist wie als Lehrer ist durch Ernst und Strenge ausgezeichnet. Bei ihm macht man eine musikalische Schule durch, wie sie leider immer seltener wird. Wohl verlangt er viel von seinen Schillern, aber noch mehr forderte er stets von sich selbst, denn sonst wäre es selbst seiner ungeheuren Begabung nicht möglich gewesen, eine derartige Meisterschaft in allen Künsten des Kontrapunktes zu erwerben, wie er sie besitzt. Man kann kühn behaupten, dass kein klassischer Meister in dem Technischen seiner Kunst eine grössere Fertigkeit errungen hat als Rheinberger. Von seinen Zeitgenossen ist er im eigentlichen Kontrapunkt unerreicht.

Bei ihm bedeutet nämlich Kontrapunkt nicht nur das wahl- und ziellose Aufeinanderpfropfen mehrerer Stimmen, mögen sie nun zu einander passen oder nicht, sondern er beobachtet immer die Gesetze der Schönheit, und während in vielen modernen Partituren manches recht interessant aussieht, aber greulich klingt, huldigt Rheinberger der einigermassen veralteten Ansicht, dass die Musik doch theilweise wenigstens für die Ohren bestimmt ist. „Ein Musiker muss Ohren haben“, predigt er in seinen Theoriestunden unzählige Male, und in der That ist es erstaunlich, zu beobachten, wie selten die seitlichen Auswüchse am Kopf die Bezeichnung Ohren verdienen, oder wie ehemals gesunde Gehörwerkzeuge durch Missbrauch entwerthet oder zerstört werden können.

Aus dem Gesagten erhellt, dass in Rheinbergers Werken die Zeichnung wichtiger ist, als die Farbe, und dass das Gewand, in welches er die Kinder seiner Muse zu hüllen liebt, nicht so glänzend zu sein pflegt, wie es das grosse Publikum gern sieht. Während er aber in allen Formen der Musik sich als Meister erwiesen hat, ist seine Kunst doch nicht Allen zugänglich, und der schon erwähnte strenge Zug, der allerdings stets mit Vornehmheit gepaart ist, verhindert eine laute Popularität. Am schönsten sind zweifellos seine Orgel- und Kirchenkompositionen. Als gläubiger Katholik hat er eine grosse Menge Messen, Hymnen u. dgl. für den Gottesdienst verfasst, und alle Organisten diesseits und jenseits des Ozeans bedienen sich mit Vorliebe seiner Werke. Seine Orgelsonaten gehören zum Besten, was in dieser Art überhaupt existirt, und die beiden herrlichen Orgelkonzerte sind vielleicht seine hervorragensten Arbeiten.

Auch unter seinen Klavierkompositionen verdienen die Stücke im strengen Stil den Vorzug. Bülow pflegte zu sagen: „Wie Raff Spezialist für Klaviersuiten ist, so ist Rheinberger unerreicht in seinen Toccaten.“ Die Kammermusik verdankt unserm Meister auch viele Perlen, für Orchester allein hat er verhältnissmassig wenig geschrieben: ausser der Wallenstein- und der florentinischen Symphonie sind es nur wenige Ouvertüren.

Begreiflich ist, dass Rheinbergers Bühnenwerke weniger erfolgreich waren, denn er steht modernen Zeitströmungen ablehnend gegenüber und hat überhaupt wenig Vergnügen an dramatischer Musik, wo manchmal „nur ein paar Takte komponirt werden, damit Einer über die Bühne gehen kann.“

Er ist eben absoluter Musiker und bei aller akademischen Vollendung ist ihm ein gesunder Herzenston eigen, der im rein Musikalischen Genüge findet. Dabei hat er die Vokalkomposition durchaus nicht vernachlässigt, sondern in allen Formen gepflegt. Ein- und mehrstimmige Lieder, Chöre für Männer- und Frauenstimmen, mit und ohne Begleitung, namentlich aber Balladen und Kantaten haben seinen Namen auch in der Laienwelt weit bekannt gemacht. Und nicht nur grosse, sondern auch kleine Leute hat er mit seinen Gaben bedacht, und oftmals lieferte seine Gattin die poetische Unterlage dazu. So schrieb sie mir einst: „Nächstens erscheint eine kleine Oper mit Klavierbegleitung für Kinder, welche ich gedichtet und Curt (dies war der Hausname Rheinbergers) komponirt hat. Der Stoff ist einem Märchen von Hauff entnommen und der Titel heisst 'Das Zauberwort'[1] . Ihr gestrenger Lehrer und Kontrapunktist wird lhnen hiebei in neuem Licht erscheinen“. Und ein andermal: „In den letzten Wochen hat er - ein Liederbuch für Kinder komponirt, dreissig Lieder zu neuen Texten. Ich durfte auch Gedichte liefern, und diese Arbeit hat ihn so gefreut, dass er manchmal laut zu lachen anfing, besonders bei dem Lied eines kleinen Geigers, ,der überall wegen seines Gekratzes ausgewiesen wird, sogar von Vater und Mutter.„

Auch für ausgedehnte Chorwerke schrieb Frau Rheinberger den Text. So veranlasste z.B. ein himmlischer Sommertag in Vaduz Dichtung und Komposition von „Montfort“, worin die Sage Rheinbergers Heimath verklärt, denn jahrhundertlang haben die Grafen Montfort auf Schloss Vaduz gehaust. Auch die Worte von „Christophorus“ und vieler anderer Vokalwerke stammen aus der Feder der Gattin, deren Schriftstellername der ihres ersten Gatten, F. v. Hoffnaas war. -

Frau Franziska Rheinberger, geborene Jägerhuber, war eine bedeutende Persönlichkeit von ausgebreitetem Wissen und erlesenem Geschmack. Sie ging ganz im Wirken für ihren Gatten auf und unterstützte ihn in allen seinen Arbeiten. So nahm sie ihm einen Theil der Korrespondenz ab und führte ein genaues thematisches Verzeichnis seiner sämmtlichen Werke. Es sei gestattet, noch einen kurzen Auszug aus einem ihrer Briefe an mich beizufügen, da er Ein treffendes Urtheil über Rheinberger enthält und zugleich das schönste Zeugniss für beide Gatten bildet: „Sie können sich denken, wie sehr es mich freut, dass Sie sich durch das Studium Rheinberger'scher Kompositionen angezogen fühlen, nicht nur um seines Ruhmes in Amerika willen, sondern weil ich aus Erfahrung weiss, dass man sich seelisch in guter Gesellschaft befindet, wenn man seine Kompositionen spielt oder hört. Auch sind dieselben durchaus in Harmonie mit seinem eigenen Wesen; man kann daher ihn und seine Werke auf gleiche Stufe stellen. Denken Sie nicht, lieber Freund, dass ich dadurch, dass ich seine Frau bin, einseitig über ihn denke. Seit 31 Jahren kenne ich ihn, seit dieser Zeit beobachte ich ihn mit Verstand und Herz und habe nie - in nichts auch nur die geringste Enttäuschung an ihm erlebt, aber sehr viel durch seinen würdevollen Charakter gelernt.“

Nachdem im Dezember 1892 der Tod Rheinberger die treue Gefährtin entrissen hatte, schrieb er mir: „So wird das Leben immer ernster und schliesslich wundert man sich, dass man einstens fröhlich war.“

Seit dieser Zeit hat sich der Meister noch mehr von der Oeffentlichkeit zurückgezogen, umsomehr, als auch körperliche Leiden sich immer mehr fühlbar machten. Mit bewundernswerther Gewissenhaftigkeit und strengem Ernst ertheilt er aber noch Unterricht, und seine Schüler, die aus allen musikalischen Ländern des Erdballs stammen, verstehen oft erst nach dem Verlassen der Schule den Werth seiner Lehren recht zu würdigen. Selbst wenn sie auf andere Bahnen als er selbst gerathen sollten, müssen sie sich doch darüber klar werden, dass man schwerlich eine solidere kompositorische Grundlage als bei Rheinberger erringen kann. Bach und Mozart sind seine Lieblinge, und bei Besprechung ihrer Werke geräth der sonst in den Unterrichtsstunden kühle Mann in förmlichen Enthusiasmus und preist in den wärmsten Worten ihre Vorzüge. Ausserhalb der Schule ist der Meister von gewinnender Freundlichkeit und bleibt seinen Schülern ein wohlgesinnter Freund.

So steht in Rheinberger eine vornehme, künstlerische Persönlichkeit vor uns, welche stets edle Musik in technischer Vollendung darbietet, denn so gross die Zahl seiner Werke ist, man wird nichts banales unter ihnen finden. Im Ausland ist er als einer der grössten zeitgenösischen Komponisten gewürdigt, und als Lehrer des Kontrapunktes gilt er als der Erste unter den lebenden. In Deutschland scheint man bisweilen seine Bedeutung zu unterschätzen, da er die wechselnden musikalischen Moden nicht alle mitgemacht hat und entschieden nicht „neudeutsch“ zu nennen ist. Vielleicht gibt aber die Zukunft einmal dem einsamen Münchener Meister recht, der vieles in der modernen Musik für eine Zeitkrankheit erklärt. Ist doch jetzt schon vielfach eine erfreuliche Umkehr zu beobachten, wie sie sich unter anderem in dem erneuten sorgfältigen Studium der Werke Mozarts kundgibt.

Jedenfalls haben wir Münchener allen Grund, mit Stolz auf Rheinberger zu blicken, der die Münchener Akademie der Tonkunst weit über die Grenzen unserers Vaterlandes durch den Glanz seines Namens berühmt gemacht hat. Möge ihm ein langer, gesegneter Lebensabend beschieden sein!

 

 

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[1] Das Zauberwort =op. 153.“Singspiel für die jugendliche Welt, frei nach einem Märchen von Hauff.“ Text von Fanny von Hoffnaass, komp. 1888.