Vinzenz Lachner bittet Josef Rheinberger Robert Kahn mit Rat zur seite zu stehen.


Karlsruhe 25.Mai 1885

Hochgeehrter Herr Hofkapellmeister!

Ein junger Mann Namens Robert Kahn [1] begibt sich nach München um das dortige Musikwesen kennen zu lernen, hauptsächlich aber und auf meinen besondern Rath, um wo möglich das Interesse und Wohlwollen des Meisters zu gewinnen, dem wir so viele Werke vollendeter Reife und klassischer Gediegenheit zu verdanken haben. Der Gedanke stand bei mir fest, als ich der Reihe nach mehrere mir noch unbekannter Compositionen, darunter das Klarinetten-Quartett [2] in C und die Toccata in G moll [3] in trefflicher Ausführung hier in Karlsruhe und endlich das unvergleichlich schöne Orgelkonzert [4] im Odeonssaale zu München gehört hatte.

Nachdem sich nun die Ausführbarkeit dieses Gedankens eingestellt hat, erlaube ich mir Ihnen den noch nicht volle 19 Jahre zählenden jungen Mann in kurzen Zügen vorzuführen.

Kahn, der Sohn eines Banquier aus Mannheim, hatte bei mir etwa 2 Jahre lang mit dem einf. Contrapunkt beginnenden Unterricht. Als ich ihn darauf an die Hochschule zu Berlin und zu Fr. Kiel [5] brachte, hatte er bereits eine grosse Anzahl von Präludien und Fugen, Lieder, Sonaten, Klavier-Stücke geschrieben, die durchweg ein ungewöhnliches, gesundes Talent verriethen. Ebenso versuchte er sich mehrfach in Orchester-Compositionen, deren Technik er sich überraschend schnell angeeignet hatte. In Berlin hielt er das Tempo stetigen Fortschreitens ein und componirte neben den Aufgaben in der höhern Kontrapunktik eine Reihe von Vokal- und Instrumentalsachen, worunter Variationen für Orchester, die in der Hochschule mit allgemeiner Acclamation aufgeführt wurden. Jede weitere Begründung erscheint überflüssig, wenn Sie die grosse Gewogenheit eintreten lassen wollen, sich von ihm eine seiner Arbeiten vorspielen zu lassen, oder einen Blick darauf zu werfen.

Seinen Charakter betreffend kann ich mit besonderer Genugthuung konstatiren, dass er keinen Zug jenes dem semitischen Kain so häufig anklebenden vorlauten, eitlen und aufdringlichen Wesens an sich trägt, sondern sich bescheiden, gemessen und unbestechlich wahrheitsliebend, leider aber auch etwas unbeholfen zeigt.

Meine Bitte geht nun nicht etwa dahin, dem jungen Mann schon Unterricht angedeihen zu lassen, sondern ihm Ihr Wohlwollen dadurch zuwenden zu wollen, dass er Sie von Zeit zu Zeit besuchen und sich Urteil und Rath in seinem musikalischen Schaffen ausbitten dürfte, was bei der Neigung unserer componirenden Jugend zu Ausschreitung und Übertreibung zum wahren Segen meinem Schützling gedeihen würde.

Der treffliche junge Mensch ist mir zum Gegenstande der Neigung und Fürsorge geworden, dass ich als gewichtigen Fürsprecher Bruder Franz [Lachner] gebeten habe, Ihnen selbst den jungen Kahn vorzustellen, nachdem er sich von dessen Würdigkeit überzeugt haben wird.

In aufrichtiger Verehrung Ihr ergebenster

Vinzenz Lachner.

Karlsruhe 25.Mai 1885

 

 

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[1] Robert Kahn = 1865-1951, Komponist, Kompositionslehrer in Berlin, lebte von 1937 an in England.
[2] Klarinetten-Quartett = Rheinberger hat kein Klarinetten-Quartett geschrieben.
[3] Toccata in G moll = Toccatina in g-moll, op. 19.
[4] ...schöne Orgelkonzert = g-moll, op. 177 (vgl. S. 2)
[5] Fr. Kiel = Friedrich Kiel, 1821-1885, Komponist. Seit 1842 in Berlin, wo er später bis zu seinem Tode als Professor an der Kgl. Hochschule wirkte.