Rheinberger tauscht sich mit Bertha Hecker über deren Tochter Henriette aus.


München, den 11. 2. 01

Sehr verehrte gnädige Frau!

Von Herzen danke ich Ihnen für Ihren lieben vertrauenden Brief. Sie wissen, wie sehr ich Frl. Henriette verehre, ja ich kann in Berücksichtigung meines Alters wohl aufrichtig sagen, dass sie mir vom ersten Anblick an lieb und ungewöhnlich sympathisch war wegen ihres einfach vornehmen Wesens, das sie in Kreuth so sehr vor allen anderen Mädchen auszeichnete und was auf ungewöhnlich sorgfältige Erziehung schliessen liess. Doch wollte es der Zufall, dass ich vielleicht im Ganzen nicht fünfzig Worte mit ihr wechselte, also wenn man die Alltagsphrasen ausnimmt, eigentlich so gut wie nie mit ihr gesprochen habe - trotzdem machte sie mir damals schon den Eindruck eines wahrhaft idealen Mädchens. Erst beim Abschied im August drückte sie mir den Wunsch aus, ich möchte ihr einmal nach Berlin schreiben, was ich unter unerbetener Beifügung meiner Photographie von München aus that. Sie erwiderte zu meiner grossen Freude die Sendung in Begleitung eines geistvollen, reizend geschriebenen Briefes, der mich zum Dank verpflichtete; und so kamen wir zufällig in einen Briefwechsel, der uns beiden grosse Freude machte und sich fast über alle Gebiete verbreitete. Nun hielt ich es aber für meine Pflicht, sie zu fragen, ob dieser rege Verkehr nicht etwa von Seiten ihrer verehrten Eltern ungern gesehen werde. Sie erwiderte, ihrer Mama mache es sogar Freude, so oft sie die bayrische Briefmarke sehe. -

Wenn ich auch immer mehr erstaunt, war, der geistigen Entwicklung dieses so ungewöhnlich ernsten und tiefen Mädchencharakters zu folgen, und wir über alles Mögliche in's Plaudern kamen, so entging meinem Blick das nicht, was gnädige Frau über den Mangel an Einfachheit des Denkens schrieben. Auch bemerkte ich mit Bedauern die so Vielen verhängnissvoll werdende Vorliebe für das "Moderne" überhaupt, in welcher Gestalt (in Kunst, Wissenschaft und Literatur) es sich auch zeigen mag; dass damit der Sinn für das einfach Wahre, Schöne und Gesunde unrettbar verloren geht, habe ich bei Dutzenden jungen Leuten gesehen. Das that mir leid: in wenigstens vier Briefen habe ich im Ernst, im Scherz und Spott dagegen geschrieben, natürlich ohne allen Erfolg. Sie ist stets dankbar, wenn man sie auf dies und jenes aufmerksam macht, ist in allen Entgegnungen liebenswürdig und fein, und wenn man glaubt, sie überzeugt zu haben, so sieht man im nächsten Briefe, dass es keine Spur von Wirkung hatte. Ich habe ihr bemerkt, sie müsse sich wohl längere Zeit mit pessimistischer, zerstörender, moderner Literatur, die ja wie eine Giftpflanze überall wuchert, mit unpassender, philosophierender Lektüre (ein 19jähriges Mädchen!) genährt haben und noch nähren, was sie zugab. Und da mit genannter Literatur eine der christlichen Religion feindliche, ja dieselbe total negierende Richtung Hand in Hand geht, so ist diese Gefahr für eine tiefgründende, grübelnde, junge und noch nicht gefestigte Natur sehr gross. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich dies nicht von meinem konfessionellen Standpunkt aus schreibe, der ja strenger wäre, sondern vom allgemein christlichen, den jeder aufrichtige Protestant billigen müsste. Auch bei den Büchern, die ich ihr zur Lesung anempfohlen, bin ich streng von jenem Prinzip ausgegangen, alle vom katholischen Standpunkt aus geschriebenen Bücher auszuscheiden. Sie las aber nur eines: Blackhouse von Dickens. -

Ich habe ihr dringend von jener unheilvollen Richtung abgerathen - war sogar schon auf dem Punkte, deswegen die Korrespondenz abzubrechen. Sie nimmt jede tadelnde Besprechung freundlich und anscheinend dankbar an, ist vielleicht auch momentan überzeugt - aber im Grund doch nur den Ideen der "Modernen" hingegeben. Sie ist keine harmonisch abgeschlossene Natur, sehr von Widersprüchen, von momentaner Stimmung beherrscht - sie ist bald von der rührendsten Bescheidenheit, und dann doch wieder en princesse Alles als selbstverständlich hinnehmend - ebenso schwankt sie zwischen der liebenswürdigsten Offenheit und dem düsteren Verschlossensein, doch im Grunde so edel, so feinfühlig und anziehend, dass ich gestehen muss, mit Ausnahme meiner lieben verstorbenen Frau nie ein weibliches Wesen gefunden zu haben, das auch nur entfernt mich so sehr interessiert oder sympathisch berührt hätte. Ich habe viel Menschenkenntniss und viele Erfahrung für mich; ich war volle fünfundzwanzig Jahre in denkbar glücklichster Ehe mit einer wahrhaft selten begabten Frau verbunden, welche mir sodann durch ein furchtbar trauriges Martyrium, das ein Jahr dauerte, entrissen wurde - ich habe die ganze Skala von Glück und Unglück durchgekostet und kann daher in allen Lagen des Lebens mitreden. -

Wie Sie aus all diesem ersehen, verehrte gnädige Frau, bin ich trotz der innigen Sympathie für meine junge Freundin nichts weniger als blind, und wollen Sie daher meine Bemerkungen freimüthig aufnehmen. Es sieht zwar fast thöricht und anmassend aus, wenn ich der Mutter Mittheilungen über das Seelenleben ihrer Tochter mache; dass aber meine so innig gewordene Antheilnahme an deren Wohlergehen die selbstloseste von der Welt ist, bedarf keiner Versicherung, und mag die seltsame Lage; dass wir (Frl. H. und ich) uns persönlich fast fremd, doch geistig so nahestehend sind, rechtfertigen. Wenn sie sich einmal verheirathet, wird es (nach meiner Ansicht) gut sein, dass der Mann ihrer Wahl wenigstens zehn Jahre älter ist, da sie in ihrem Urtheil und in ihren Anschauungen ernst, fest und scharfbeobachtend, schwer lenksam und ihre Selbständigkeit eifersüchtig wahrend ist; er wird sie mit der grössten Liebe behandeln, unter dem Sammthandschuh Festigkeit bewahren, ihr nie direkt oder gar schroff widersprechen und sie vor Allem noch geistig überragen müssen. Das Letztere dürfte nicht leicht sein! Sie werden über meine Weisheit lachen, aber ich nehme es nicht übel.

Und nun, verehrte gnädige Frau, was ich Ihnen über Fräulein Henriette freimüthig mitzutheilen für Pflicht fand, bitte ich als ganz vertraulich zu betrachten, da mir sonst wahrscheinlich von meiner lieben Freundin, die ich so sehr in's Herz geschlossen, das weitere Vertrauen entzogen würde, was mich tief betrüben müsste. In Ihrem Sinne aber will ich gerne mitwirken und wäre glücklich, wenn ich zum Wohlergehen meiner lieben, verehrten Freundin etwas beitragen könnte - viel wird es ja nicht sein!

Mit der Versicherung meiner Hochachtung,
Gnädige Frau!
küsse ich Ihre Hand und verbleibe
Ihr ergebenster

Jos. Rheinberger.

Frl. H. wird meinen gestrigen Gruss ausgerichtet haben.

______________