Hedwig von Holstein schreibt über die Aufführung des "Christophorus" in Leipzig


Leipzig, 23. März 1882

 

Sonnabend, den 23.3.1882

Liebste Fanny!

Schon ist es elf Uhr nachts, aber ich will doch versuchen, noch ein Paar Worte über Dein und Deines Mannes herrliches Werk zu sagen, was ich vor wenigen Stunden hörte. Die Aufführung war vorzüglich mit den gegebenen Mitteln, der Chor fehlerlos und genügend stark, Schelper als Träger der Hauptparthie Achtung gebietend, - für mich nicht mehr. Er singt rein und rhytmisch, spricht gut aus und hat eine grosse, schöne Stimme, es fehlt für mich aber Geist und Leben in ihm was Anderen gar nicht bewusst wird bei seinem Gesang. Der Tenor, Singer, war 2. oder 3. Ranges. Die beiden Frauenstimmen sehr liebe junge Dilettantinnen, Mitglieder des Vereins, die mit hübschen Stimmchen correct und erfreulich sangen, keinen Fehler machten, während Schelper einmal herauskam, und Singer früh einsetzte, - Beides vom Publikum unbemerkt. Der Dirigent war vortrefflich, ich ging zu ihm, um zu danken in Eurem Namen – verzeiht, wenn ich mir zu viel anmasste! Ich sagte ihm, dass ich Euch alles schreiben würde, u. a. auch, dass er sich den ganzen Winter hindurch mit den Einstudiren des Chirstophorus bemüht hat, und ausser den Vereinsabenden noch extra Chorstunden gegeben, um es möglich zu machen mit unmusikalischen Leuten, von denen Einige nicht die Noten kennen sollen!! Das Orchester war das der Euterpe – ein schlechtes!

Nun aber zu einem Bekenntniss. Wir konnten erst kommen, als der Chor sang: „ein neuer Samson uns erstand“, haben also die Ouverture und den 1. Chor nicht gehört! Zu derselben Stunde, oder vielmehr an demselben Abend, sang die Schimon in der Kammermusik im Gewandhaus mit ihrem Quartett. Ich sagte ihr, dass ich sie nicht hören könne, weil ich den Christophorus hören wolle und müsse. Sie nahm mir das nicht allein übel, sondern sie kündigte mir alle Freundschaft auf, wenn ich nicht von ½ 7 Uhr bis 8 Uhr auf meinem Platz in’s Gewandhaus gehen wolle, und, da das Singakademieconcert erst ½ 8 Uhr beginne und ich blos den Christophorus hören wolle, ich dazu noch zeitig genug kommen würde. Mir schien das richtig, und ich raste mit meiner Helene am Arm um 8 Uhr in die Buchhändlerbörse. Der grosse Saal war übervoll. Ich hatte für alle meine Raben Billette genommen, nicht wissend, dass gleichzeitig die Kammermusik sein würde welche die Conservatoristen par ordre hören müssen. Wir fanden bei Euch ein sehr aufmerksames, aber mir gänzlich unbekanntes Publikum, der Chor geputzt und sonntäglich aussehen, mit Eifer und Todesangst an dem Taktstabe des jungen Dirigenten hängend. Es herrschte eine gewisse Andacht und auf allen Gesichtern las man Interesse und Wohlgefallen. Um so empörter war ich, als der Eindruck des Schlusschores gänzlich gestört wurde durch das Hinauslaufen der Ungebildeten; ich zischte und schimpfte laut, und siehe, da schloss man die Thür von aussen und die Schaafe standen davor, hatten ihre Sitzplätze verloren und konnten nicht hinaus. Verzeih’ diese elenden Äusserlichkeiten. Das Werk hat mich erhoben und auf’s Höchste interessiert, und ich sollte meinen, es müsse überall studirt werden. Ich kritzelte beim Hören unbedeutende Bemerkungen in den Text, die Dir doch vielleicht nicht ganz werthlos sind, als unmittelbarer Eindruck beim ersten Hören, von einer guten Durchschnittspublikumperson. Schelper sang mehrmals etwas andre Worte, die ich der Wunderlichkeit wegen hinschrieb. Das „Hol’ über“ sang das junge Mädchen reitzend; das Christkind dagegen doch zu klein und unbedeutend, ich denke mir das anders. – Zum Schluss wurde herzlich applaudirt, nur Schade, dass kein musikverständiges Publikum drin war – sie waren alle in der Kammermusik, und die war noch lange nicht aus, als wir entliefen – auch der grause Berstorf war bei der Schimon, wenn der also in den Signalen etwas über Christophorus sagt, so lügt er, er hat ihn nicht gehört.

Dass ich durch meine Aufrichtigkeit in meinem letzten Brief Schuld an Eurem Nichtkommen war, war grausam gegen mich selbst, - erkennt es an.

Wie grenzenlos ich Dich beneide, dass du diesen Text schrieben konntest! Ich finde ihn musterhaft, ebenso poetisch als musikalisch, neu und stimmungsvoll.

Deine Hedwig.

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