Rezension der Allgemeinen Musikalischen Zeitung über "Thürmers Töchterlein" (Leipzig Nr. 26 vom 25. Juni 1873, S.410-412)


Rezension des Werkes "Türmers Töchterlein" aus der Allgemeinen Musikalischen Zeitung:

 

Leipzig, 25. Juni 1873

Musikbericht aus München,

/…/ Schliesslich freuen wir uns, aus den allerjüngsten Tagen  noch über eine Opern-Novität berichten zu können, freilich  die einzige, welche seit Jahresfrist hier aufgeführt  wurde: es ist dies die am 23. April zum ersten Male über  die Bühne gegangene komische Oper "Thürmers Töchterlein"  von Joseph Rheinberger, längst angekündigt und vorbereitet,  aber durch zahlreiche Zwischenfälle vielleicht nicht immer  unfreiwilliger Natur hinausgeschoben. Um den Standpunkt,  von welchem aus wir das neue Werk beurteilen zu müssen  glauben, zu kennzeichnen, erscheint es nothwendig darauf  hinzuweisen, dass die d e u t s c h e komische Oper seit  Lortzing's Werken, welche die Prinzipien Dittersdorf's und  Mozart's vertreten, in unseren Jahrzehnten kaum ein namhaftes  Werk aufzuweisen hat. Dort hat also ein deutscher Componist,  welcher eine neue deutsche komische Oper bringen  will, seinen Anknüpfungspunkt zu suchen. Es muss daher auch  jede Beurtheilung eines neuen derartigen Werkes frei sein  von den Einflüssen, welche die besondere Art der f r a n -  z ö s i s c h e n komischen Oper, von der deutschen so  grundverschieden, in ihren ziemlich häufigen Aufführungen  auszuüben vermag.

Der Text von "Thürmers Töchterlein" ist einer sehr ansprechenden  Erzählung Fr. Trautmann's, welche zuerst in einem  der älteren Jahrgänge der "Fliegenden Blätter" zu lesen  war, entnommen und von Max Stahl, einem jungen Justizbeamten,  in geschickter Gruppierung für die Bühne bearbeitet.  Die Handlung spielt in München im Mai 1632 und hat zum historischen  Hintergrunde die Annäherung der Schweden, wie  den endlichen Einzug Gustav Adolph's; sie beginnt auf dem  alten Marktplatze vor dem Rathhause, setzt sich in der  Trinkstube zum Fischbrunnen und in dem Wächterstübchen  des Petersthurmes fort und endet im grossen Rathhaussaale.  Gertrud, des Petersthürmers hübsches Töchterlein,  wird von dem Goldschmid Heinrich Wildebrandt, einem jungen  Brausewind, und dem Rathsschreiber Hieronymus Wurzel.  gleichzeitig umworben. Der Sieg neigt sich natürlich zu  Heinrich, welchem jedoch ein Wortwechsel wegen des  scheinbaren Nebenbuhlers die Geliebte entfremdet. Uebermuth  und Streitsucht bringen Heinrich, Ruhmredigkeit und  begründete Spionenfurcht den Rathsschreiber in das Gefängniss,  nachdem sie beide das Petersthurmstübchen vergeblich  als Zufluchtsort betrachtet hatten, wo sich Heinrich  mit Gertrud versöhnt hat. Beide werden nur durch die  Fürbitte Gertrud's beim Schwedenkönige erlöst: Heinrich  um sein Leben lang in die ersehnten Ketten der Ehe mit  der Geliebten geschlagen zu werden, Wurzel um in dem  minder erwünschten Ehejoche mit seiner ihn verfolgenden  Base und Haushälterin Frau Cordula für die Spottreime  zu büssen, die er gegen Gustav Adolph gedichtet hat und  die er zum grossen Gaudium der schwedischen Soldateska  in des Konigs Gegenwart vor allem Volke um sein Leben  zu retten mit Zittern und Zagen wiederholen muss. Dies  mit kurzen Zügen der Inhalt, im Ganzen nach der Anordnung  des Textbuches!

Dasselbe trägt zwar unverkennbar einige mit wenig Strichen  zu beseitigende Mängel; immerhin finden wir in demselben  eine tüchtige dramatische Gestaltungskraft, welche  lyrische, komische und spannend dramatische Situationen  mit Geschick zu verbinden und hierdurch dem Componisten  zugleich sehr dankbare Scenen zu schaffen versteht.  Dem Dialoge hätten wir gegenüber den gross angelegten  musikalischen Scenen entweder mehr Ausdehnung  oder völlige Beseitigung und recitativische Behandlung  gewünscht, wenn dadurch nicht das Werk zu sehr in die  Länge gezogen wird. Im Interesse einer kürzeren Fassung  würde sich auch die Zusammenziehung der fünf Acte in  vier, im Interesse der unmittelbaren dramatischen Wirkung  aber würden sich kleine Aenderungen der ersten beiden  Actschlüsse empfehlen; dieselben würden besser mit  den in denselben vorhandenen recht wirksamen Steigerungen  rasch abschliessen, statt die gehobene Stimmung  wieder etwas verklingen zu lassen und die Verbindung  zum Nachfolgenden schon im Voraus sichern zu wollen.  Gedanken und Verse sind frisch und zierlich, derb und  kräftig, je nachdem es erforderlich; urwüchsige Komik  findet sich an rechter Stelle sowohl in Scenen als in  Worten.

Rheinberger's Musik zeichnet sich in erhöhtem Maasse  durch jene Eigenschaften aus, welche wir in seiner leider  vom Repertoire verschwundenen Oper "Die sieben Raben"  und in seinen übrigen grösseren und kleineren Werken  schätzen gelernt haben. Seine compositorische Thätigkeit  fusst durchweg auf dem soliden Grundbau der  Classiker; er hält fest an deren Formen und handhabt  dieselben mit Meisterschaft, nicht ohne wirkliche Fortschritte  auf dem dramatischen Gebiete, soweit solche  unbeschadet der musikalischen Form- und Klangschönheit  erreicht wurden, zu beachten. Es sind daher nicht nur  vollkommen abgerundete Lieder, Arien, Duette, Chöre u.s.w.   wohl unterschieden, sondern auch, wo es die immer  treffend erfasste Situation mit sich brachte, breit ausgeführte  Ensemblesätze mit Recitativen und Ariosen angewendet,  was selbstverständlich zunächst den Finales  zufiel. Ganz besonders treu und scharf gelang dem Cornponisten  die Charakterzeichnung der Personen; die liebenswürdige  Naivität und Innigkeit der Titelheldin, die  hin- und herschwankende Doppelnatur des jungen, edelgesinnten  aber leichtsinnigen Brausekopfes Heinrich, die  bornirte Selbstgefälligkeit, dann die Todesangst des  verliebten alten Wurzel, die Bösmauligkeit und Redseligkeit  der heirathssüchtigen alten Cordula: sie sind mit  fein ausgeführten Nüancen meisterlich festgehalten.

Dass Gustav Adolph mit gehöriger Majestät auftritt, versteht  sich von selbst; seine Schweden sind durch einen  Marsch und Chor ausgezeichnet, welcher nebst vielen anderen  Nummern des Componisten Ursprünglichkeit und Frische  der Erfindung, seine ganze liebenswürdige Eigenart  in helles Licht setzt. Letztere Eigenschaften zeigen  sich überhaupt durchweg in der Oper, so namentlich auch  in dem angeheiterten Liede Heinrichs in der Zechstube  und in den lyrischen Partien des Werkes, welche, wie das  Duett zwischen Heinrich und Gertrud im ersten Acte, des  Ersteren Lied, das Lied des alten Petersthürmers  Hinneriz, das darauffolgende Terzett mit Heinrich und  Gertrud, der Letzteren Cavatine und des Schwedenkönigs  Ansprache an die Deputation der Frauen und Mädchen,  voll der liebenswürdigsten ansprechendsten Melodik sind.  Die beiden komischen Persönlichkeiten werden nicht selten  mit Dittersdorf'schen Zügen durch die Musik trefflich  illustrirt. Dies führt uns von selbst auf die  durchaus feingefühlte, wirkungsvolle Instrumentation,  welche jeder Situation eigene Reize verleiht. Schon die  Ouvertüre ist voll Leben und Bewegung, wie es einer komischen  Oper gebührt. Nehmen wir dies Alles zusammen, so  können wir die Behauptung, ohne Widerspruch fürchten zu  müssen, aufstellen: es ist in "Thürmers Töchterlein"  eine neue deutsche komische Oper geschaffen worden, welche  nicht nur in München, dessen Erde sie so ganz entstammt,  sondern auch auswärts eine bleibende Stätte auf  den deutschen Bühnen zu finden verdient.

Die erste Aufführung war sehr gelungen; die Aufnahme unbestritten  glänzend, indem sie Alles mit sich brachte,  was eben erste Aufführungen mit sich zu bringen pflegen:  Hervorrufe des Componisten und der Darsteller. Wir legen  hierauf weniger Gewicht. Bei der Wiedergabe glänzten  unsere ersten Kräfte: Fräul. Stehle als Gertrud, Herr  Vogl als Heinrich, Frau Diez als Cordula, Herr Kindermann  als Gustav Adolph. Herr Bausewein gab den alten Hinnerz,  Herr Mayer die schwierige und umfangreiche Partie des  Rathsschreiber; sie thaten Alles für das Werk und leisteten  Vorzügliches. Allerdings war Herr Mayer seiner Aufgabe  nicht so ganz gewachsen, da as ihm bisher an genügender  Beschäftigung in solchen Rollen fehlte.

Die sichere Leitung und allseitige Bühnengewandtheit,  welche Levi bei Vorbereitungen und Aufführung bethätigte,  zeigten sich wiederum in schätzbarster Weise. Dem  Werke, das uns viele Freude machte, wünschen wir allüberall  verdiente Würdigung! 

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