Hedwig von Holstein erzählt Franziska Rheinberger von ihren Freunden, den beiden Herzogenbergs


Hedwig von Holstein gibt eine interessente Charakterisierung der beiden Herzogenbergs und schreibt an Franziska:

[Leipzig, 15.3.1873]

"Neulich sang unsere Helene Euren Liederzyklus, den wir so leidenschaftlich lieben. Herzogenbergs hörten ihn & schienen frappirt über die Simplicität. Habe ich Dir schon von diesen Leuten erzählt? Ich muss sie Dir schildern, denn sie sind, ohne unser Zuthun, wie von selbst in unsern engern Freundeskreis getreten, in den sie passen, als wären sie von jeher darin gross geworden. Er ist Musiker vom Fach, d.h. wie mein Franz, er schreibt & lässt drucken - hat aber keine Anstellung und will keine. Auf dem Wiener Conservatorium gebildet, lebte er meist in Graz, wo einige Compositionen von ihm aufgeführt wurden, u.a. der "Columbus", eine Concert-Sonate. Seine Sachen stossen beim ersten Hören jeden natürlichen Menschen ab, sie sind in Brahms'scher Art geschrieben, die Betonung fällt meist auf den schlechten Tactteil, & man kann vor Syncopen nichttreten, die Melodie hat keinen Fluss oder es ist gar keine da. Trotzdem haben diese Compositionen fast alle einen hochpoetischen Reiz, sie sind tief empfunden & trefflich gearbeitet, wie F/ranz/ sagt. Mit der Zeit singt & spielt man sich hinein & lernt sie lieben. Wir studiren jetzt ein Chorwerk mit Solo "Deutsches Liederspiel", bei Fritzsch erschienen, & "Nanna", ein Quartett für Frauenstimmen, welches beides uns vollständig gefangen genommen hat während des Übens.

Franz und Herzogenberg verstehen sich als Menschen & als Cavaliere vortrefflich.. Sie haben dieselbe Erziehung gehabt, mit denselben Vorurtheilen kämpfen müssen, & haben dieselbe seelische Feinheit, dieselbe Liebe für die bildende  Kunst. In der Musik aber stehen sie sich gegenüber wie Feuer & Wasser, sie können sich rein gar nicht verständigen. Der reine Wohlklang scheint Herzogenberg eine Verwöhnung des Ohrs, & Franzen ist er erstes Bedürfnis. Brahms ist Herzogenberg zu einfach, meinem Mann zu gesucht. Ihr könnt Euch denken, was Herzogenberg vom Erben von Morley hält, & mit welchem sauren Gesicht Franz uns zuhört, die Herzogenberg'schen Chöre einüben. Und beide lieben sich zärtlich & wünschen sich herzlichst Gedeihen & Vorwärtsschreiten auf ihrem Wege.

Frau von Herzogenberg ist die Tochter des vormaligen hannoverschen Gesandten in Wien, von Stockhausen, strengaristokratisch erzogen & durch ihre Heirath mit einem Künstler frei geworden. Sie ist jung & von so zarter Schönheit, dass man eine Peri zu sehen glaubt. Sie hat eine solche Begabung für die Musik, wie wir sie in keiner Frau gefunden haben; sie weiss alles auswendig, z.B. hatte sie die Schumannsche Phantasie [1] seit 3 Jahren nicht gespielt, wir kamen im Gespräch darauf, & es handelte sich, eine Stelle zu vergleichen, da spielte sie das ganze Stück mit wenigem Zögern oder Besinnen, ohne Anstoss auswendig. Zu diesem Musikleben & zu ihrer superfeinen Cultur passt sehr wunderlich ihre Leidenschaft für die edle Kochkunst. Wenn wir bei ihnen sind, hat die närrische Frau die wundersamsten Speisen mit höchster Sorgfalt selbst gekocht, weil ihr Mann das liebt. Das Zusammenleben dieser beiden ist reine Wonne mit anzusehen, er trägt sie auf Händen, & sie verachtet die Menschen, die sie mehr lieben als ihren Mann. -

Wir sind durch Fritzsch mit ihnen bekannt geworden, die Einrichtung so harmonisch & echt künstlerisch, wie die blaue Grotte mit den 2 angrenzenden Zimmern."

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[1] Fantasie in C-dur für Klavier, op. 17.