Hofkaplan Johann Franz Fetz hält seine Erinnerungen an die Kindheit von J. G. Rheinberger fest.


Brief Hofkaplan Joh. Franz Fetz an Fanny Rheinberger [1]
29. August 1867, Vaduz


Hochverehrteste Madame!
… Sie wünschen einige Züge aus Josefs Kindheit. Eine lebhafte Biographie zu schreiben, habe ich das Zeug, wie man sagt, nicht; aber was ich erfahren, will ich Ihnen getreu mittheilen.

Josef Rheinberger ward geboren d. 17. März 1839 zu Vaduz, Fürstenthum Liechtenstein. Sein Vater Joh. Peter Rheinberger war damals fürstlicher Rentmeister; seine Mutter Elisabeth, geborene Carigiet, von Disentis im Kanton Graubünden, deren Bruder Jacob Anton Carigiet damalen Domdecan an der bischöfl. Cathedrale zu Chur, war früher vieljähriger Pfarrherr in unserer Nachbarschaft Schaan. Der Grundcharakter dieser Eltern unsers' Josefs ist beharrliche Religiosität.
Über den kleinen Josef - oder wie er jetzt noch hier genannt wird 'Peppe' - waltete die göttl. Vorsehung wunderbar. Nicht lange vor seiner Geburt hatte seine Mutter das Unglück über eine lange Hausstiege herunterzustürzen, so dass man für die Geburt desselben schwere Folgen fürchtete. Der ängstlich besorgte Vater machte in diesen bedenklichen Tagen das Versprechen: der Kirche zu Vaduz eine neue Orgel zu widmen, um eine glückliche Entbindung zu erflehen. Gegen alle Erwartung hatte jener Fall der Mutter gar keine schlimmen Folgen. Mit dem Bau der Orgel wurde begonnen und ausgeführt. Inzwischen wuchs der kleine Peppe gesund und blühend herauf. Seine älteste Schwester Johanna [2] (eine Barmherzige Schwester in Tirol) sollte auf Anregung seines obgenannten Oncle's, damals Pfarr in Schaan, sich der Musik widmen. Er verschaffte ihr hiezu ein altes Clavier, ein Schullehrer [3] von Schaan herkommend ertheilte Unterricht. Der Vater war anfangs damit nicht einverstanden, er sagte: Meine Kinder sind nicht musikalisch, das haben sie nicht erben können. Er hatte jedoch Unrecht!

Wie der 5jährige Peppe das Geklipper des Clavier's hörte, mischte er sich allmälig in den Unterricht, probirte mit seinen kleinen Fingern die Tasten zu drücken und war bald nicht mehr davon abzuwenden. Als der Lehrer dies bemerkte, liess er die Schwester Johanna bei Seiten und nahm den kl. Peppe in den Unterricht. Die Anfangsgründe waren schnell überwunden und die Fortschritte merkwürdig. Nun kam's zur neuen Orgel, da waren aber die Füsse für das Pedal zu kurz und musste ein zweites erhöhtes Pedal als Sattel darauf construirt werden, und Peppe wurde mit dem 9. Jahre Organist. So war Peppe, dessen Geburt den Orgelbau veranlasst hatte, der erste Organist an dieser neuen Orgel. - In der That merkwürdig!

Während des Unterrichts in Clavier und Orgel besuchte Peppe vom 6. Jahre an die hiesige Dorfschule; was er hier erlernte, war aber nicht von Bedeutung, denn sein Kopf steckte mehr beim Clavier und Orgel oder bei den Kinderspielen. Trotzdem übertraf er alle seine Mitschüler. Als einmal diese vom Lehrer über Mittag Schularrest erhielten, da murrten sie, dass nur der Peppe davon gekommen sei; der Lehrer sprach: 'Peppe lernt auf dem Sandhaufen mehr als ihr alle in einem Tage'. Unser Peppe pflegte seine Jugendunterhaltungen oft auf einem Sandhaufen oder in einem kleinen Graben zu treiben; von der Orgel in den Graben und auf den Sand  - in einem Sprunge. Jemand äusserte einmal an einem Sonntag nach dem Gottesdienst vor der Kirche den Wunsch, den kleinen Organisten zu sehen und erhielt die Antwort: 'Schauen Sie hin dort am Brunnen steht er im Graben mit dem Wasser spielend!'
Peppe besuchte die Dorfschule nur kurze Zeit, höchstens 3 1/2 Jahre; dann 1 1/2 Jahre war er in der Musiklehre zu Feldkirch [4], kam jedoch jeden Sonnabend und an Vorabenden von Festtagen nach Vaduz um an Sonn- und Festtagen die Orgel zu bedienen und ging gleich wieder nach Feldkirch und gewöhnlich zu Fuss 3 Stunden weit. Vom Herbste 1850 bis 51 erhielt er bei mir einigen Unterricht mit einem gleichjährigen Cameraden, den er weit überschaute, oft zum besten hielt, der es noch nicht weit gebracht hat. Ich weiss aber wahrhaft nicht, was er bei mir gelernt, denn wir trieben es nicht so ernstlich und gar nicht genau. Sein Studien- und Lesezimmer war oft sehr original. Er machte sich auf irgend einem Baum einen Sitz zurecht und setzte sich unter die Vögel hin mit einem Buche in der Hand. Nun handelte es sich um eine ernstliche und weitere musikalische Ausbildung. Der besorgte Vater sträubte sich lange den jungen Sohn in die weite Welt hinaus zu entlassen. Herr Pfarrer Wolfinger in Türkenfeld übernahm die Stelle eines Mentors und öffnete dem Peppe Bayerns schöne Hauptstadt und so kam er im Herbst 1851 in's Conservatorium nach München, wo er bald der Liebling der Herren Professoren v. Mayer und Schaffhäutl wurde. Wie es dorten weiter erging, wissen diese Herren besser als ich zu erzählen. Die Erfolge waren über alle Erwartung zur höchsten Freude der Eltern, Geschwister, Verwandten und Freunde - und diesen Erfolgen setzten Sie, Madame, die herrlichste Krone auf...

Ihr ergebenster Joh. Franz Fetz, Hofkaplan
Vaduz, 29. August 1867

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[1] Fanny Rheinberger sammelte Angaben zur Kindheit von J. G. Rheinberger und bat verschiedene Personen in Vaduz um entsprechende Mitteilungen.
[2] Johanna = Schwester des Komponisten und später als Barmherzige Schwester Maxentia Generaloberin ihres Ordens im Kloster Zams (Tirol).
[3] Schullehrer von Schaan = Sebastian Pöhly (auch Pöhli) (1808-1889) aus Schlanders/Südtirol, vgl. S. 28 ff.
[4] Feldkirch = Städtchen in Vorarlberg mit damals ca. 1600 Einwohnern., Die Strecke, die Rheinberger zurückzulegen hatte, betrug etwa 15 km.