Die Vertreter Liechtensteins und Österreichs einigen sich über die Grundsätze für ein Handelsverkehrsabkommen


Maschinenschriftliches Protokoll, mit handschriftlichen Ergänzungen, der liechtensteinischen Gesandtschaft in Wien, gez. Prinz Eduard von Liechtenstein [1]

o.D. (2.12.1919), Wien 

Aufzeichnungen

der liechtensteinischen Gesandtschaft über die Sitzung vom 2. Dezember 1919 im österreichischen Staatsamt für Äusseres in Angelegenheit der Regelung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Österreich und Liechtenstein

Anwesend:

für Österreich:

Gesandter [Theodor von] Ippen für das Staatsamt für Äusseres

Generalkonsul [Heinrich] Wildner für das Staatsamt für Äusseres

Vizekonsul [Karl] Hudeczek für das Staatsamt für Äusseres

Sektionschef Mühlwenzel [Josef von Mühlvenzl] für das Staatsamt für Finanzen

Ministerialrat [Friedrich] Schauberger für das Staatsamt für Finanzen

Oberfinanzrat [Richard] Blaha für das Staatsamt für Finanzen

Sektionschef Riedel [Richard Riedl] für das Staatsamt für Handel

Ministerialrat Mörch [Karl Mörth] für das Staatsamt für Handel

Sektionsrat Hardt-Stremayr [Hardt-Stremayer] für das Staatsamt für Verkehrswesen

Bahn-Oberkommissär Dr. Hummel für das Staatsamt für Verkehrswesen

Ministerial-Sekretär Dr. Szabo für das Staatsamt für Verkehrswesen

Sektionsrat Ruber für das Staatsamt für Inneres

Ministerialrat [Johann] Monschein für die Generalpostdirektion 

für Liechtenstein: 

Gesandter Prinz Eduard

Landtagspräsident Friedrich Walser

Legations-Sekretär [Alfred von] Baldass

Der Vorsitzende begrüsst den Herrn Landtagspräsident Walser und bittet ihn, eine Darstellung über die im Fürstentum gegenüber Österreich bestehende Stimmung und gehegten Absichten zu geben. Präsident Walser und ergänzend Prinz Eduard präzisierten den Standpunkt Liechtensteins dahin, dass eine zollpolitische Bindung des Landes nach irgend einer Seite bei den gegenwärtigen ungeklärten Verhältnissen ausgeschlossen erscheine. Wenn Österreich den zollpolitischen Anschluss an ein grösseres Gebiet, sei es nun Deutschland, sei es eine Donauföderation, finde, dann werde die Majorität des Landes, nach ihrer gegenwärtigen Stimmung zu schliessen, ohne Zweifel für den Zollanschluss an Österreich sein, trotzdem eine Minderheit stark nach der Schweiz gravitiere. Da sowohl diese Entwicklung abzuwarten ist, wie auch die Klärung der Vorarlberger Frage, [2] wolle Liechtenstein einstweilen keinen Zollvertrag abschliessen, sondern lediglich Vereinbarungen über den Warentausch mit seinen Nachbaren. Da Liechtenstein nicht in der Lage ist, gleich dem übrigen Auslande die aus Österreich bezogenen Waren in Schweizer Franken zu zahlen, habe man bei den Besprechungen in Feldkirch [3] an die Errichtung einer Kompensationsstelle gedacht, welche den Warenverkehr zwischen den beiden Staaten im Kompensationswege regeln würde. Jene Waren, die Liechtenstein in Franken zahle, sollten nicht auf das Kompensationskonto zählen. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob Liechtenstein konkrete Vorschläge zu machen in der Lage sei und wie es sein Verhältnis zur Schweiz zu gestalten gedenke, verwies der Gesandte auf die ihm von der Regierung übermittelten Entwürfe, 

1.) den Entwurf eines Regulativs für den kleinen Grenzverkehr [4]  

2.) den Entwurf eines Übereinkommens betreffend den Warenverkehr zwischen Österreich und Liechtenstein, [5] der eine Bearbeitung des Österreich-Schweizerischen Warenverkehrsabkommen [6] darstellt. Diese beiden Entwürfe, die mit der Finanzbezirksdirektion in Feldkirch vereinbart seien und der österreichischen Regierung wohl ebenso zugemittelt sein dürften, würden [7] vorzüglich Substrate für die Besprechungen bieten. Mit der Schweiz will Liechtenstein ein ähnliches Abkommen über Warenverkehr treffen und im übrigen für das eigene Gebiet die gegenwärtige, volle Zollfreiheit beibehalten. Der Gesandte erörterte weiter, welche Artikel für Liechtenstein hauptsächlich aus Österreich benötigt werden (Salz, Baumaterialien, Bekleidungsartikel, Petroleum) und verwies auf die vorhandenen Kompensationsmöglichkeiten: nicht allzu grosse Mengen von Vieh und Erzeugnisse der Textilindustrie. Die Industrie wünsche an Stelle des jetzigen autonomen Zolltarifes bei der Einfuhr nach Österreich die gleiche Stellung mit dem der Schweiz gewährten vertragsmässigen Tarif. Dies gelte besonders auch für die Schaaner Fabrik Schlumpf, welche Automobilbestandteile und Glühkerzen nach Österreich liefert. Es stellte sich nun zunächst heraus, dass die österreichische Regierung nur im Besitze des Entwurfes für den Grenzverkehr ist. Österreichischerseits wird auf den Hinweis, dass das Übereinkommen 2 mit den Feldkirchner Stellen eingehend erörtert wurde, betont, dass diese hiefür ja gar nicht kompetent seien. 

Sektionschef Riedel vom Staatsamt für Handel erklärt, dass der Kompensationsverkehr als Basis für das Abkommen mit Liechtenstein unannehmbar sei. Österreich habe die Absicht, den Kompensationsverkehr abzubauen und stehe mit den Nationalstaaten in diesbezüglichen Verhandlungen, für welche ein Kompensationsabkommen mit Liechtenstein ein gefährliches Präjudiz bedeuten würde. Der Gesandte erwiderte, dass dieser Standpunkt dem Lande ja nur sympathisch sein könnte, man habe Kompensationen ja nur in Aussicht genommen, weil man glaubte, ohne solche nichts erhalten [8] zu können. Es handle sich also jetzt nur mehr [9] um die Regelung des kleinen Grenzverkehrs und der Einräumung der Meistbegünstigungen in demselben Ausmass, wie sie die Schweiz besitzt, sowie um [10] die Bezahlungen der Waren in schweizerischer respektive österreichischer Valuta.

Sektionschef Mühlvenzel erklärt im Namen des Staatamtes für Finanzen, dass der Einräumung der Meistbegünstigung im selben Ausmasse wie der Schweiz kein Hindernis im Wege stehe, und erklärt sich auch mit dem Feldkircher Entwurf bezüglich Regelung des kleinen Grenzverkehrs für einverstanden. Er bittet den Entwurf des Übereinkommens über den Nahverkehr im Wesentlichen vorzutragen. Der Gesandte bringt den Entwurf in grossen Zügen zum Vortrag, worauf derselbe als Basis für den Warenverkehr als geeignet erkannt und die Ausarbeitung eines Gegenvorschlages durch das Staatsamt für Handel beschlossen wird.

Als Grundlage des Abkommens zwischen Österreich und Liechtenstein wird im Prinzip Meistbegünstigung gegen Zollfreiheit anerkannt. Bezüglich der Zahlungswährung wäre Österreich zu einem Entgegenkommen bereit, doch befürchtet es ein Abfliessen der Waren nach der Schweiz. Wenn Garantien gegen dasselbe geboten werden, wird die Devisenzentrale, welche in ihren Verfügungen autonom ist, fallweise Entgegenkommen zeigen, doch ist eine Bindung ihrer Entschliessungen ausgeschlossen. Der Gesandte schlägt vor, den Bedarf des Landes in gewissen Belangen, beispielsweise Zement, Petroleum, Schuhe, zu kontingentieren und die bezügliche Bezahlung in österreichischer Valuta zu gestatten. Was darüber hinausginge, müsste in schweizer Franken gezahlt werden. Dieser Vorschlag wird österreichischerseits mit Zustimmung entgegengenommen. Der Gesandte verlangt auch ein Abkommen bezüglich des Strickereiveredelungsverkehrs und verweist auf die diesbezüglichen Wünsche der Vorarlberger Arbeiter, die in Ruggell beschäftigt werden; zwischen [11] der Schweiz und Liechtenstein sei [12] bereits der Stickereiveredelungsverkehr geregelt und wünscht Liechtenstein [13] den gleichen Vertrag, wie ihn Österreich mit der Schweiz [14] hat. Österreichseits wird erwidert, dass dies möglich sei, jedoch eingeschränkt auf das engere Grenzgebiet in Vorarlberg. [15]

Sektionschef Riedel erklärt, dass es im Interesse beider Teile liege, eine ganz kurze und durchaus provisorische Abmachung zu treffen. Wegen der Gefahr, durch Meistbegünstigungen Schwierigkeiten zu schaffen, und der Unmöglichkeit, vor Ablauf von 6 Monaten nach Ratification des Friedens [16] einen Überblick über die voraussichtliche wirtschaftliche Entwicklung zu gewinnen, empfehle es sich, jetzt nur einen kurz gefassten Modus vivendi zu stipulieren, in dessen Schlusspassus erwähnt wird, dass jederzeit eingehende Abmachungen möglich sind. Giltigkeit ein Jahr, nach dem es verlängert werden kann, kurze Kündigungsfrist. Österreich räumt Liechtenstein Meistbegünstigung ein, Liechtenstein Österreich [17] die Zollfreiheit. Die Wünsche Liechtensteins bezüglich Einfuhr bestimmter Waren, ebenso des Stickereiveredelungsverkehrs, werden durch Sonderabmachungen geregelt, eventuell Kontingentierungen für bestimmte Waaren [18], wobei die kontingentierte Menge in Kronen, was darüber hinaus geht, in Franken zu bezahlen ist; diese Abmachung hätte jedoch nicht im Vertrag, der nur 2 oder 3 § umfassen soll, zu stehen, sondern in einer speziellen Vereinbarung auf Grund des Vertrages. Als Schlussprotokoll wäre das Übereinkommen betreffend Regelung des kleinen Grenzverkehrs unverändert nach dem Entwurf beigefügt. [19]

Es entwickelt sich nun eine eingehende Diskussion hinsichtlich weiterer Fragen:

1.) Verkehrswesen. Der Gesandte erklärt über Anfrage, ob Liechtenstein die Trennung der Bahnverwaltung anstrebe, dass ihm dies gar nicht einfalle. Liechtensteinischerseits bestehen in dieser Frage derzeit keine Wünsche. Die Bahnverwaltung bleibt österreichisch. [20] Es wird hierauf die Eingabe der Gesandtschaft an die Reparationskommission [21] wegen Beistellung von Waggons erörtert und setzt der Gesandte auseinander, dass er mit dieser Forderung von etwa 50 Waggon für Liechtenstein der österreichischen Bahnverwaltung zu Hilfe kommen will in ihrem Bestreben wegen Zuteilung von Waggons gegenüber den Successionsstaaten. Österreich hätte dann in dieser Hinsicht den Wunsch Liechtenstein's vor der Reparationskommission zu vertreten und werde bei Frankreich und England Unterstützung finden. Der Vertreter des Staatsamtes nahm dies zur Kenntnis und wird die Richtigkeit der Forderung und der dadurch Österreich gewährte Succurs anerkannt. Präsident Walser wünscht die Aufnahme eines Punktes über den Durchfuhrverkehr in den Vertrag, worauf bemerkt wird, dass die Durchfuhr ja frei ist. [22]

2.) Ministerialrat Monschein und der Gesandte [23] skizzierten in grossen Zügen das Ergebnis der gestrigen Besprechung bezüglich des Postvertrages. Die rechtlichen Schwierigkeiten, die darin bestanden haben, dass die österreichische Postverwaltung schwer ein Abkommen mit der liechtensteinischen Regierung treffen könne, wäre jetzt leicht zu [24] beseitigen, indem man in dem von Sektionschef Riedel skizzierten Staatvertrag einen Punkt bezüglich der Post aufnimmt, auf Grund dessen dann das Abkommen zwischen liechtensteinischer Regierung und österreichischer Postverwaltung getroffen wird. Das Staatsamt des Äussern erklärt sich einverstanden und Ministerialrat Monschein wird den diesbezügliche Passus für den Vertrag an Sektionschef Riedel übermitteln. [25] Der Vorsitzende ersucht Präsident Walser, von dem Ergebnis der Beratung in Liechtenstein Mitteilung zu machen. [26] Sektionschef Riedel wird den Vertragsentwurf fertig stellen, hiebei mit dem Gesandten kooperieren. Dieser wird mit dem Entwurf eventuell nach Vaduz kommen, um die Wünsche des Landes nach Abänderung zur Kenntnis zu nehmen, worauf dann, falls erforderlich, eine neuerliche formelle Besprechung im Staatsamt des Äussern unter Zuziehung von Vertretern des Fürstentums oder nur mit dem Gesandten erfolgen wird.

______________

[1] LI LA RE 1919/5963 ad 0004. Aktenzeichen der Gesandtschaft: Zl. 490/1. Weiteres Exemplar in LI LA V 003/231. Vgl. das gedruckte Protokoll des österreichischen Staatsamtes für Äusseres über die gemeinsame Sitzung vom 2.12.1919 "betreffend die Gestaltung der Zoll- und Handelsbeziehungen zu Liechtenstein" (LI LA RE 1919/6185 ad 0004; LI LA V 003/321 (Aktenzeichen des Staatsamtes für Äusseres: III.15181.10.1919). Hintergrund der Verhandlungen war die vom liechtensteinischen Landtag am 2.8.1919 beschlossene Kündigung des Zollvertrages mit Österreich, welche einen neuen Staatsvertrag hinsichtlich des Warenverkehrs erforderlich machte (LI LA LTA 1919/S04).
[2] Verweis auf die Anschlussbestrebungen Vorarlbergs an die Schweiz 1919.
[3] Die Besprechungen mit der Finanz-Bezirks-Direktion Feldkirch fanden am 11. und 23.9.1919 statt (vgl. hiezu etwa das Schreiben von Landesverweser Prinz Karl von Liechtenstein an die liechtensteinische Gesandtschaft in Wien vom 1.10.1919 (LI LA RE 1919/4829 ad 0004).
[4] Vgl. den Entwurf zu einem Regulativ für den kleinen Grenzverkehr zwischen Vorarlberg und Liechtenstein an der neu errichteten Zolllinie vom 12.9.1919 (LI LA RE 1919/4829 ad 0004 (Aktenzeichen der Finanz-Bezirks-Direktion: Zl. 21.886)).
[5] Vgl. die Grundzüge über die Ein- und Ausfuhr von Waren nach bezw. von Liechtenstein während der Dauer der Ein-, Aus- und Durchfuhrverbote vom 24.9.1919 (LI LA RE 4829 ad 0004 (Aktenzeichen der Finanz-Bezirks-Direktion Feldkirch: Zl. 23.378)). Vgl. ferner den undatierten Entwurf für ein Übereinkommen betr. den Warenverkehr zwischen Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein (LI LA RE 1919/4829 ad 0004).
[6] Vgl. den Handelsvertrag und das Viehseuchenübereinkommen zwischen Österreich-Ungarn (gleichzeitig in Vertretung des Fürstentums Liechtenstein) einerseits und der Schweiz andererseits vom 9.3.1906, LGBl. 1906 Nr. 8.
[7] Handschriftlich ergänzt: "würden".
[8] Handschriftlich ergänzt: "erhalten".
[9] Handschriftlich ergänzt: "nur mehr".
[10] Handschriftlich ergänzt: "sowie um".
[11] Handschriftlich ergänzt: "zwischen".
[12] Handschriftlich ergänzt: "sei".
[13] Handschriftlich ergänzt: "Liechtenstein".
[14] Handschriftlich ergänzt: "mit der Schweiz".
[15] Dieser Satz wurde handschriftlich eingefügt. Vgl. in diesem Zusammenhang die Verordnung vom 5.11.1919 über den Stickereiveredlungsverkehr mit der Schweiz, LGBl. 1919 Nr. 16.   
[16] Handschriftlich eingefügt: "nach Ratification des Friedens". Vgl. den Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye vom 10.9.1919, öst. StGBl. 1920 Nr. 303.
[17] Handschriftlich eingefügt: "Österreich".
[18] Handschriftlich eingefügt: "Waaren" [sic].
[19] Vgl. die Verordnung vom 1.5.1920 betreffend die Abmachungen über den Handelsverkehr zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Republik Österreich, LGBl. 1920 Nr. 2; bzw. den Notenwechsel zwischen der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein vom 22.4.1920 betreffend die Regelung der Handels- und Verkehrsbeziehungen, öst. BGBl. 1921 Nr. 136.
[20] Vgl. Art. 8 der genannten Verordnung vom 1.5.1920, LGBl. 1920 Nr. 2, wonach Österreich und Liechtenstein bezüglich der Eisenbahnen die Fortdauer des geltenden Rechtszustandes anerkannten.
[21] Handschriftlich eingefügt: "an die Reparationskommission".
[22] Vgl. Art. 5 der Verordnung vom 1.5.1920, in welchem die Befreiung von Durchgangsabgaben stipuliert wurde.
[23] Handschriftlich eingefügt: "Gesandte".
[24] Handschriftlich eingefügt: "zu".
[25] Vgl. Art. 7 der Verordnung vom 1.5.1920, demzufolge Bestimmungen über den Post-, Telegraphen- und Fernsprechdienst in besonderen Übereinkommen vereinbart werden sollten. Vgl. in diesem Zusammenhang das öffentliche Landtagsprotokoll vom 30.1.1920 über die Genehmigung des Postvertrages mit Österreich (LI LA LTA 1920/S04).
[26] Vgl. das Protokoll vom 17.1.1920 über die Besprechung des Gesandten Prinz Eduard, der liechtensteinischen Regierung und der liechtensteinischen Landtagsabgeordneten betreffend den Handelsvertrag mit Österreich (LI LA LTA 1920/S04).